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AutorenbildWalter Gasperi

59. Solothurner Filmtage: Dokumentarisch-fiktionale Grenzgänge

Wie ein Dokumentarfilm wirkt Michael Karrers "Füür brännt – Feuer brennt" und ist doch rein fiktional. Lisa Gerig inszeniert dagegen in "Die Anhörung" die Vernehmung von vier Asylsuchenden nach und Laura Cazador und Amanda Cortés lassen in "Autour du feu" am nächtlichen Lagerfeuer zwei Schweizer Anarchisten der 1970er Jahre und drei junge Aktivist:innen von heute über Staatsmacht und Grenzen des Widerstands diskutieren. In die Schweiz des Jahres 1977 eintauchen lässt schließlich Werner Schweizer mit "Operation Silence – Die Affäre Flükiger".


Michael Karrer folgt in seinem Langfilmdebüt "Füür brännt – Feuer brennt" in drei Erzählsträngen abwechselnd einer Gruppe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch einen Sommertag. In langen, statischen und großteils distanzierten Einstellungen blickt er bald auf die Kinder, die sich zum Spiel treffen, sich bald langweilen und streiten, bald auf Teenager, die an einem Flussufer schwimmen und bei einem Lagerfeuer Party machen, bald auf die jungen Erwachsenen, die im Garten eines Einfamilienhauses feiern.


Vor allem am Beginn erinnert "Füür brännt" mit dem hellen Sommerlicht, der Unaufgeregtheit und Alltäglichkeit an den Berlin-Film Klassiker "Menschen am Sonntag". Vom Tag in die Nacht wird Karrer den Bogen spannen und während die Kinder nach Hause gehen, feiern die beiden anderen Gruppen noch lange weiter. Reichlich Alkohol fließt dabei bei den Teenagern und Streitgespräche entwickeln sich, die sich aber rasch wieder verflüchtigen, während die jungen Erwachsenen abgeklärter wirken.


Wenig verwunderlich ist, dass "Füür brännt" auch schon zu Dokumentarfilmfestivals eingeladen wurde, denn Karrer presst keine Geschichte hinein, sondern lässt den von Laien gespielten Figuren viel Raum und beschränkt sich darauf ihre Interaktionen und die Gruppendynamik einzufangen. So unspektakulär das ist, so beglückend ist das im natürlichen Spiel und der großartigen Kameraarbeit, die atmosphärisch dicht die Stimmung des warmen Sommertages ebenso wie der lauen Nacht evoziert.


Ein Hybrid zwischen Dokumentar- und Spielfilm ist auch Lisa Gerigs "Die Anhörung", denn Grundlage für den Film bilden reale Anhörungen von Asylsuchenden, die hier nachgestellt werden, da die echten Befragungen nicht gefilmt werden dürfen. Wie die Beamten von noch aktiven oder ehemaligen Mitarbeitern des Staatssekretariats für Migration (SEM) gespielt werden, so erleben hier auch reale Asylsuchende aus Kamerun, Nigeria, Indien und Afghanistan nochmals die Anhörung durch.


Spürbar wird das Quälende und Beklemmende dieser Befragungen einerseits in der spartanischen Inszenierung, in der in den kahlen weißen Räumen in statischen Einstellungen die Gespräche festgehalten werden, aber auch im Formalen mit Dolmetscher:innen und Protokollant:innen, die auch allfällige Tränen der Befragten kühl schriftlich festhalten müssen.


Gerig bleibt aber nicht bei der Nachzeichnung dieser Anhörungen, sondern macht einerseits mit dem Blick auf den Aufbau des Sets auch das Reenactment bewusst und lässt gegen Ende mit einem Positionswechsel die Asylsuchenden selbst die Beamten zu ihren Gefühlen während der Anhörung und ihren Fragen zu intimen Details sowie zur Entscheidung über Wahrheit und Lüge der Aussagen befragen. – So bietet "Die Anhörung" nicht nur einen Einblick in einen Prozess, zu dem man sonst kaum Zugang hat und führt intensiv Einzelschicksale von Asylsuchenden vor Augen, sondern wirft auch die Frage nach der Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit dieses Procederes und der daraus resultierenden Entscheidungen auf.


Einfach ist im Grunde das Konzept von Laura Cazadors und Amanda Cortés´ Dokumentarfilm "Autour du feu". Das Regie-Duo beschränkt sich in seinem Debüt, das mit dem mit 20.000 Franken dotierten Preis "Visioni" für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, darauf an einem nächtlichen Lagerfeuer die beiden 1970er Jahre Anarchisten Jacques Fasel und Daniel Bloch und drei junge Aktivist:innnen von heute, deren Gesichter zur Sicherung ihrer Anonymität vermummt bleiben, aufeinandertreffen zu lassen.


Ihre Gespräche über Motive des Widerstands, Rechtmäßigkeit von Gewalt und wachsende Zustimmung der Bevölkerung zu Überwachung und Polizeimaßnahmen werden dabei immer wieder ergänzt durch Archivmaterial zu den Aktionen der "Faselbande" in den späten 1970er Jahren und aktuellen Protesten gegen Rassismus, Kapitalismus und soziale Ungleichheit.


Im Aufeinanderprallen dieser Bilder, aber auch der Schilderung werden sowohl Veränderungen als auch Konstanten sichtbar. So zeigt sich mit den drei heutigen Aktivist:innen auch, dass die Beweggründe und Ziele heute weit vielfältiger sind, wenn sich der Bogen von einer Hausbesetzerin über ein Mitglied von Extinction Rebellion bis zur jungen Frau spannt, die aufgrund ihres Migrationshintergrunds als Enkelin eines Algerienkämpferin den Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus als zentral ansieht.


In die 1970er Jahre taucht auch Werner Schweizer in seinem investigativen Dokumentarfilm "Operation Silence – Die Affäre Flükiger" ein. Auch hier gibt es mit der Schauspielerin Sonja Riesen, die quasi in die Rolle der drei Schwestern des 1977 unter bis heute ungeklärten Umständen verstorbenen Offiziersanwärters Rudi Flükiger schlüpft und deren Aussagen spricht, ein fiktionales Element.


Diese familiäre Ebene ist dann auch die Hauptlinie des Films, in dem Schweizer im Stil von Michael Moore, aber doch weit zurückhaltender auch immer wieder selbst als Recherchierender und Fragender im Bild ist. Aufbauend auf der emotionalen Betroffenheit der Schwestern Flükigers deckt der Filmemacher, unterstützt von Archivmaterial wie Filmen, Fotos und schriftlichen Dokumenten sowie Interviews mit zahlreichen Zeitzeugen das Desinteresse der Behörden an einer sorgfältigen Aufarbeitung des Todesfalls auf. Gleichzeitig entwickelt Schweizer dabei ein komplexes Zeitbild, bei dem RAF-Terrorismus mit Schleyer-Ermordung und vor allem die Bewegung zur Errichtung eines eigenen Kantons Jura ebenso hereinspielen wie Schmuggler an der schweizerisch-französischen Grenze.


Dem einfachen behördlichen Bild von einem Selbstmord Flükigers stellt "Operation Silence – Die Affäre Flükiger" so den aufgrund vielfältiger Indizien naheliegenderen Mord gegenüber, wobei die Täterschaft aber offen bleibt. So spannend der Film aber auch immer wieder in einzelnen Momenten ist, so tendiert er doch insgesamt auch zu Langatmigkeit, da es Schweizer - wohl auch aufgrund der Komplexität der Ereignisse - nicht gelingt den Stoff entscheidend zu verdichten und auf den Punkt zu bringen.



Weitere Berichte von den 59. Solothurner Filmtagen: - Vorschau - "Bergfahrt", Bisons" und "Bon Schuur Ticino"

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