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AutorenbildWalter Gasperi

60. Viennale: "Mutzenbacher" und freche französische Komödie

Aktualisiert: 3. Nov. 2022


Ruth Beckermanns "Mutzenbacher" bietet spannende Einblicke nicht nur in einen einstigen Skandalroman, sondern vor allem in männliche Sexualität. Alain Guiraudie dagegen zeichnet in der Komödie "Viens je t´emmène" sehr unterhaltsam ein Stimmungsbild des heutigen Frankreichs zwischen sexuellem Verlangen und Terrorangst.


Während bei anderen großen Festivals wie Berlin oder Locarno der Hauptwettbewerb den Tagesablauf vorgibt und man meist um diese Termine herum dann weitere Filme einplant, entfällt dieser fixe Rhythmus bei der Viennale.


Täglich macht man hier neu sein persönliches Programm und muss zwischen den verschiedenen Sparten und Filmen eine Wahl treffen. So spannend die Retrospektive des Werks des Japaners Yoshida Kiju und die filmhistorische Reihe zum argentinischen Film noir der 1950er Jahre klingt, angesichts der Fülle an aktuellen Filmen findet man dafür kaum Zeit.


Denn ausgesprochen vielfältig wird auch letzteres präsentiert. Neben großen Namen kann man da mit Gastón Solnickis "A Little Love Package" auch einen stimmungsvollen, elegant gefilmten aber auch sehr fragmentarischen Bilderreigen über zwei Frauen, die in Wien eine Wohnung suchen, entdecken. Solchen kleinen Filmen stehen die großen Festivalerfolge des heurigen Jahres gegenüber.


Ruth Beckermann gewann beispielsweise mit ihrem Dokumentarfilm "Mutzenbacher" heuer den Hauptpreis im "Encounters" genannten zweiten Wettbewerb der Berlinale. So reduziert und einfach das Konzept dieses Films ist, so überzeugend, dicht und unterhaltsam ist das Ergebnis. Beckermann verfilmt nicht den 1906 anonym erschienenen und lange verbotenen Roman "Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne" sondern beschränkt sich auf ein Casting.


Auf Inserts, die Informationen zum Buch bieten, folgt ein Insert mit dem Casting-Aufruf, in dem Männer zwischen 16 und 99 Jahren zum Vorsprechen für einen Film über diesen Roman eingeladen werden. Schauspielerische Erfahrung wird dabei nicht vorausgesetzt.

In einer leerstehenden ehemaligen Sargfabrik, in der der Putz schon von der Wand bröckelt und der sich nur ein paar Stühle, ein Flügel und ein rosarotes Sofa befinden, sprechen die Interessenten vor. Beckermann selbst bleibt unsichtbar, richtet aus dem Off Fragen an die Männer, lässt sie Passagen aus dem Roman vorlesen und befragt sie darüber.


Der detaillierten Schilderung der sexuellen Erlebnisse der Protagonistin, die schon mit ihrem fünften Lebensjahr beginnen und mit dem 14. enden, steht die Kargheit des Settings und die Beschränkung auf Groß- und Nahaufnahmen der auf dem Sofa sitzenden Männer gegenüber. Doch deren Unterschiedlichkeit vom jungen bis zum älteren Mann und von unbekannten Laien bis zum ehemaligen Direktor des Österreichischen Filmmuseums Alexander Horwath und ihre unterschiedliche Reaktion auf die Texte macht "Mutzenbacher" durchgehend spannend und immer wieder auch sehr witzig.


Schüchterner Zurückhaltung und steht lustvolles Rezitieren der Passagen gegenüber und nicht nur Fragen zu eigenen Vorstellungen von der kindlichen Protagonistin werden aufgeworfen, sondern auch zu sexuellem Missbrauch durch Vater, Priester und Religionslehrer. So wird nicht nur ein Eindruck von diesem Roman vermittelt, der als Meisterwerk der erotischen Literatur gilt, sondern in den Reflexionen dazu wird auch Einblick in die männliche Sexualität geboten.


Herrlichen Spaß nicht zuletzt aufgrund seiner Unbekümmert- und Respektlosigkeit bereitet die Komödie "Viens je t´emmène" von Alain Guiraudie, der vor allem durch den verstörenden "L`inconnu du lac" bekannt wurde. Im Mittelpunkt steht der Mittdreißiger Médéric, der sich in die deutlich ältere Prostituierte Isadora verliebt. Als sie auf sein ebenso rührendes wie unbeholfenes Werben eingeht, sehen sich aber beide bald mit Isadoras eifersüchtigem Mann konfrontiert.


Doch diese Geschichte ist nur ein Teil der Handlung, denn parallel zum Sex zwischen Isadora und Médéric wird in unmittelbarer Nähe auch ein scheinbar islamistisch motivierter Terroranschlag verübt, der Fremdenfeindlichkeit schürt, und Médéric einen jungen Araber, der vor seinem Wohnblock herumhängt, der Mitschuld verdächtigen lässt.


Schon ziemlich frech und gewagt ist, wie Guiraudie in Form einer Komödie von Terrorangst und wachsender Fremdenfeindlichkeit, von häuslicher Gewalt und überaufmerksamen und neugierigen Nachbarn, die stets auf der Hut sind und schließlich eine Bürgerwehr bilden, erzählt. Aber durch die lustvolle Überzeichnung entwickelt sich eine sehr unterhaltsame Komödie, die nicht nur ein Stimmungsbild des heutigen Frankreichs zeichnet, sondern auch zum Nachdenken über eigene Ängste und den Umgang damit anregt.


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