Kelly Reichardt sorgt mit „First Cow“ für einen ersten Höhepunkt im Wettbewerb, während Philippe Garrel mit seinem Liebesfilm „Le sel des larmes“ nur formal überzeugen kann.
Viel Aufhebens machte man letztes Jahr um den Umstand, dass Jacques Audiard in seinem Western „The Sisters Brother“ die Protagonisten beim Zähneputzen zeigte, doch Kelly Reichardt fokussiert in ihrem „First Cow“ fast gänzlich auf solchen alltäglichen Handlungen. Im Mittelpunkt stehen auch keine Revolverhelden, Sheriffs oder Rinderbarone, sondern ein Koch, der zunächst eine Gruppe von Trappern begleitet, und ein Chinese.
Wie in ihrem ersten Western „Meek´s Cutoff“ hat Reichardt auch „First Cow“ im engen 4:3-Format gedreht und lässt damit nie das Gefühl von Weite aufkommen, das sonst dieses Genre prägt. Wieder ist Oregon der Schauplatz, doch während in „Meek´s Cutoff“ Frauen im Zentrum standen, kommen diese bei dieser Verfilmung eines Romans von Jonathan Raymond nur im kurzen Prolog und in einer kleinen Szene vor, davon abgesehen ist dies ein reiner Männerfilm.
Statt in der Prärie spielt „First Cow“ zudem in den Wäldern, in denen der Koch Figowitz beim Sammeln von Pilzen auf einen nackten Chinesen stößt, der von Russen verfolgt wird. Figowitz versteckt diesen King Lu, doch bald trennen sich ihre Wege, bis sie sich in einer kleinen Siedlung wieder begegnen. Langsam entwickelt sich nun eine Freundschaft, auf die schon das dem Film vorangestellte Zitat von William Blake verwies: "Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen die Freundschaft."
Weder Helden noch Duelle gibt es hier, sondern aufreizend viel Zeit lässt sich Reichardt für die Schilderung von Tätigkeiten, die man sonst im Western noch nie gesehen hat vom Sammeln von Beeren und Nüssen über das Fegen einer Hütte und das Aufstellen eines Blumenstraußes bis zum Backen von Milchbrötchen, die in der Siedlung bald reißenden Absatz finden.
Die Milch dazu beschaffen sich Figowitz und King Lu freilich illegal, indem sie die Kuh des Chefs der Siedlung – die titelgebende erste Kuh in dieser Gegend – heimlich melken. Mit diesem Geschäftsmodell erzählt Reichardt mit leisem Witz auch vom Anfang des Kapitalismus, vorhersehbar ist freilich, dass der Milchdiebstahl früher oder später auffliegen und das Duo zu Gejagten werden wird.
Nicht nur in der Fokussierung auf Randfiguren des klassischen Western, sondern mehr noch mit seiner kleinen Geschichte, seiner Liebe zu Details und im wunderbar entspannten und entschleunigten Erzähltempo steht dieser Film so quer zu allem, was man sonst im Kino sieht, dass man „First Cow“ einfach lieben muss und ihm schon jetzt Chancen auf einen Bären zutrauen darf.
Im Gegensatz zu diesem nachhaltig beglückenden Filmerlebnis löste Philippe Garrels Liebesfilm „Le sel des larmes“ zwiespältige Gefühle aus. Bewundern muss man zwar die Schwarzweißbilder von Kameramann Renato Berta und die leichthändige und runde Inszenierung, aber die Handlung bewegt sich doch in zu ausgetretenen und flachen Bahnen.
Im Mittelpunkt steht der Tischler Luc, der bei einem Parisaufenthalt eine Beziehung mit der schüchternen Djemila beginnt, diese aber nach Rückkehr in seine Heimatstadt sitzenlässt und stattdessen eine Beziehung mit seiner Jugendfreundin Geneviève beginnt. Als Luc in Paris in einer renommierten Möbelbauschule aufgenommen wird, lässt er auch Geneviève, die inzwischen von ihm schwanger ist, sitzen und bandelt bald mit einer dritten jungen Frau an.
Während bei den Frauen Lucs Verhalten tiefe Trauer auslöst, scheint er kaum zu Emotionen fähig, bis er am Ende bei der Nachricht vom Tod seines von André Wilms wunderbar gespielten Vaters in Tränen ausbricht.
So zeitlos oder auch der Gegenwart allein schon durch den Beruf des Tischlers enthoben dieser Film auch daherkommt, so leidet er doch nicht nur an dieser banalen Geschichte, sondern wohl mehr noch an der unsympathischen Hauptfigur: Schwer ist es, einen Grund zu finden, warum man dem selbstgefälligen, arroganten Luc rund 100 Minuten folgen soll.
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