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AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Lili Hinstins erstes Programm

Aktualisiert: 17. Aug. 2019


Nach dem Abgang des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian zur Berlinale zeichnet erstmals die Französin Lili Hinstin für das Programm des Locarno Film Festival (7.-17.8. 2019) verantwortlich. Piazza Grande und Wettbewerb um den Goldenen Leoparden scheint sie ähnlich anzulegen wie ihre Vorgänger, wartet aber auch mit einigen Neuerungen auf.


Gespannt sein darf man bei der 72. Auflage des Tessiner Filmfestivals schon auf den Eröffnungsfilm auf der Piazza Grande. Mit „Magari“ hat Hinstin hierfür eine italienische Produktion ausgewählt. Etwas mit Skepsis blickt man dieser Weltpremiere von Ginevra Elkanns Debüt entgegen, denn nicht vorstellen kann man sich, dass sich das nur drei Wochen später startende Filmfestival von Venedig einen wirklich herausragenden italienischen Film entgehen lässt.


Elf Weltpremieren, darunter einen Kurzfilm, werden in Locarno abends in dem vielleicht schönsten Freilichtkino der Welt gezeigt. Der Deutsche Patrick Vollrath, der mit dem Kurzfilm „Alles wird gut“ auf sich aufmerksam machte, darf in diesem Rahmen seinen ersten Langfilm „7500“ präsentieren. Joseph Gordon-Levitt spielt in dem ausschließlich im Cockpit eines Airbus A 319 spielenden Thriller einen Co-Piloten, der sich gegen eine Gruppe Männer wehren muss, die versuchen ins Cockpit einzudringen.


Gehört ein deutscher Film – vielleicht auch als Zuckerl für die zahlreichen deutschen Touristen am Lago Maggiore – fast schon traditionell ins Piazza-Programm, so fällt auf, dass die Schweiz hier nur mit Natascha Bellers „Die fruchtbaren Jahre sind vorbei“ im Rahmen der neu geschaffenen Sektion „Crazy Midnight“ im Spätprogramm vertreten sind.


Große Namen sind wie gewohnt nur durch Filme vertreten, die schon auf anderen Festivals liefen. Quentin Tarantinos „Once Upon a Time in Hollywood“ feiert so hier kurz vor dem Kinostart seine Schweizer Premiere, während der Brite Asif Kapadia nach seinem Dokumentarfilm über Amy Winehouse („Amy“) in dem wie Tarantinos Film schon in Cannes präsentierten „Maradona“ Person und Leben des argentinischen Fußballstars nachspürt.


Zu den bekannten Namen zählt auch der Japaner Kiyoshi Kurosawa, der eher für Thriller und Horrorfilme bekannt ist, mit dem das Festival beschließenden „To the Ends of the Earth“ aber dem Vernehmen nach ein Road-Movie um eine junge Japanerin, die mit einer kleinen TV-Crew durch Usbekistan zieht, vorlegt.


Abgesehen von Kurosawa und Tarantino dominiert Mittel- und Westeuropa diese Programmschiene. Aus Frankreich kommen neue Filme von Valérie Donzelli („Notre Dame") und Stéphane Demoustier („La fille au bracelet“), aus den Niederlanden Halina Rejns Thriller "Instinct" und aus England mit der Komödie „Days of the Bagnold Summer“ das Regiedebüt des Schauspielers Simon Bird.


Die Spätvorstellungen, die die Schiene "Crazy Midnight" bilden, dürften allesamt härtere und abgefahrenere Kost bieten. Klassisches wie Bong Joon-hos Thriller "Memories of Murder" oder John Waters´ "Cecil B. Demented", die anlässlich der Verleihung von Preisen an Waters bzw. den Schauspieler Song Kang-ho vergeben werden, steht neben neuen Produktionen wie Roberto de Feos "Il nido".


Im Wettbewerb konkurrieren 17 Filme, 14 davon als Weltpremieren, um den Goldenen Leoparden. Wie gewohnt dominieren auch hier die unbekannten Namen, mit dem Portugiesen Pedro Costa, der „Vitalina Varela“ präsentiert, ist aber auch ein bekannter Vertreter des radikalen und sperrigen Autorenkinos vertreten sowie mit Ulrich Köhler und Henner Winckler, die gemeinsam „Das freiwillige Jahr“ inszenierten, zwei Proponenten der Berliner Schule.


Auch in dieser Sparte fällt die eher schwache Präsenz der Schweiz auf, die nur „O Fim do mundo“ von Basil da Cunha ins Leopardenrennen schicken darf. Die große geographische Spannbreite von Maya Khourys syrischem Dokumentarfilm „During Revolution“ bis zum isländischen „Echo“ von Rúnar Rúnarssson und vom indonesischen „The Science of Fictions“ von Yosep Anggi Noen bis zu „A Girl Missing“ des Japaners Koji Fukada verspricht aber eine vielfältige und spannende Konkurrenz. – Überlange Filme, mit denen Locarno in den letzten Jahren für Schlagzeilen sorgte, fehlen heuer im Wettbewerb, alles bewegt sich im gewohnten Rahmen zwischen rund 80 und 144 Minuten.


Beibehalten hat Lili Hinstin auch den Parallelwettbewerb „Cinéastes du présent“, der Platz für experimentellere Produktionen bieten soll. In diesem Rahmen feiern unter anderem der Dokumentarfilm „Space Dogs“ der österreichisch-deutschen Duos Elsa Kremser und Levin Peter sowie „Love Me Tender“ der Schweizerin Klaudia Reinicke ihre Weltpremieren. Neu ist die Schiene "Moving Ahead", in der noch gewagtere Experimente und Mischformen gezeigt werden sollen.

Die ganz jungen Talente präsentieren ihre Kurzfilme dagegen in der Sektion „Pardo di domani“, während die Retrospektive unter dem Titel „Black Light“ mit 37 Lang- und 8 Kurzfilmen einen ebenso spannenden wie vielfältigen Einblick in das amerikanische, aber auch das europäische Black Cinema von den 1920er Jahren bis zur Jahrtausendwende bieten wird.


Wie gewohnt werden in Locarno aber auch abseits des Wettbewerbs zahlreiche Preise vergeben. So geht der Pardo d´onore heuer an John Waters, in dessen Werk mit sechs Filmen Einblick geboten wird. Der Excellence Award wird an den südkoreanischen Schauspieler Song Kang-ho verliehen, während Hilary Swank mit dem Leopard Club Award ausgezeichnet wird.


Der Pardo alla carriera wird an den Schweizer Altmeister Fredi Murer vergeben und der Premio Raimondo Rezzonico, der jeweils an einen Produzenten geht, erhält heuer das Kollektiv Komplizen Film, das so herausragende Filme wie „Western“ oder „Toni Erdmann“, aber auch die Filme von Miguel Gomes oder Corneliu Porumboiu produzierte. Geehrt werden aber auch technische Leistungen hinter der Kamera. Die französisch-amerikanische Cutterin Claire Atherton, die unter anderem für den Schnitt zahlreicher Filme von Chantal Akerman verantwortlich zeichnet, erhält so den Vision Award Ticinomoda.


Auch den Entwicklungen im Bereich der Virtual Reality und deren Möglichkeiten für den Film wird mit der Präsentation mehrerer Filme Rechnung getragen, während im Rahmen des „Panorama Suisse“ mit elf Filmen ein Einblick in das aktuelle Schweizer Filmschaffen geboten werden soll. Vor allem für ausländische Gäste bietet sich dabei die Möglichkeit Stefan Haupts Historiendrama „Zwingli“ ebenso zu entdecken wie die Dokumentarfilme „Immer und ewig“ von Fanny Bräuning oder „Architektur der Unendlichkeit“ von Christoph Schaub.


Und schließlich sollte man in Locarno auch die vom Verband Schweizer Filmjournalisten organisierte Semaine de la critique, in deren Rahmen jährlich sieben ungewöhnliche Dokumentarfilme gezeigt werden, nie übersehen. Der Bogen spannt sich hier heuer von Martin Saxers, Marlen Elders´ und Daler Kazievs Porträt einer von der Welt vergessenen Kleinstadt im tadschikischen Hochland in „Murghab“ über Elke Margarete Lehrenkrauss´ Erkundung des Lebens von Sexarbeiterinnen an deutschen Verbindungsstraßen in „Love Mobil“ bis zu David Vogels Porträt von vier Schweizern, die zum Islam konvertierten, in „Shalom Allah“.


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