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AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Goldener Leopard für Pedro Costas „Vitalina Varela” – Ein Resümee


Mit Pedro Costas „Vitalina Varela“ zeichnete die Jury den wohl besten Film des Wettbewerbs aus. Auch die anderen Preise gehen bei diesem Festival in Ordnung, bei dem die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin den Kurs ihres Vorgängern mit Unterhaltung auf der Piazza und eigenwilligen Arthouse-Filmen im Wettbewerb fortsetzte.


Oft überraschen die Preisvergaben bei Filmfestivals, doch die heurigen Entscheidungen der von der französischen Regisseurin und Schriftstellerin Catherine Breillat geleiteten fünfköpfigen Jury wird insgesamt wohl große Zustimmung finden. Mit Pedro Costas „Vitalina Varela“ wurde zurecht ein künstlerisch ebenso innovativer wie geschlossener Film mit dem mit 75.000 Schweizer Franken dotierten Goldenen Leoparden ausgezeichnet. – Eine weitere Festivalkarriere ist diesem Film zweifellos sicher, ob er auch in den deutschsprachigen Ländern einen Verleiher finden wird, scheint noch offen, ein kleines Nischenpublikum könnte dieser Film aber nicht zuletzt aufgrund seiner wie Gemälde von Caravaggio ausgeleuchteten Bilder durchaus ansprechen.


Dass zudem noch die Hauptdarstellerin Vitalina Varela, die dem Film auch den Titel gibt, mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, ist zwar vertretbar, doch hätte es hier wohl auch Alternativen gegeben. Statt „nur“ mit einer lobenden Erwähnung hätte man hier zum Beispiel auch die eine oder alle drei Hauptdarstellerinnen von Maura Delperos „Maternal“ prämieren können. Immerhin wurde dieser Film um Familie und Mutterschaft durchaus passend von der Ökumenischen Jury ausgezeichnet.


Angesichts der Vergabe des Hauptpreises an einen radikalen Film kommt der Spezialpreis der Jury an Park Jung-bums „Pa-go“ etwas überraschend, erzählt der Südkoreaner darin doch recht konventionell eine Krimi- und Dorfgeschichte, in der eine auf eine Insel versetzte Polizistin scheinbar auf einen Missbrauchsfall stößt, schließlich aber feststellen muss, dass beinahe das ganze Dorf involviert ist.


Unbedingt begrüßen muss man dagegen die Vergabe des Regiepreises an Damien Manivel, dem es mit „Les enfants d`Isadora“ mit im Grunde minimalen Mitteln, aber sehr konzentrierter Inszenierung gelingt, Hommage an die legendäre Tänzerin Isadora Duncan mit Beschwörung der Ausdruckskraft des Tanzes zu kombinieren und zudem zur Reflexion über Mutter-Kind-Beziehungen anzuregen.


Und auch der Darstellerpreis für die Leistung des Indigenen Regis Myrupu in Maya Da-Rins „A Febre“ geht durchaus in Ordnung und kann auch als Statement für die bedrohte und ausgegrenzte indigene Bevölkerung in Brasilien angesehen werden. Auch der FIPRESCI-Preis, der Preis der internationalen Filmkritik, ging an diesen leisen, aber mit seinen starken Bildern nachwirkenden Film.


Typische Locarno-Filme wurden hier ausgezeichnet, Filme weit abseits des Mainstreams, in denen die Filmemacher nach einer eigenen filmischen Sprache suchen, die aber auch immer wieder auch Anforderungen an die Geduld des Zuschauers stellen. Den Weg ihres Vorgängers Carlo Chatrian, der nun künstlerischer Leiter der Berlinale ist, scheint Lili Hinstin nicht nur beim Wettbewerb, sondern auch beim Programm der Piazza fortzusetzen.


Von schweren Brocken im Wettbewerb wie Eloy Encisos „Longa noite“, bei dem schon mit der ersten Einstellung sein Kunstwillen zum Ausdruck kommt und dann 80 Minuten geredet, aber kaum etwas gezeigt wird, oder dem unendlich langsamen indonesischen „The Science of Fictions“ konnte man sich am Abend auf der Piazza bei Komödien und Thrillern erholen.


Vom klaustrophobischen „7500“, der ausschließlich im Cockpit eines Flugzeugs spielt, und dem packenden Gerichtsfilm „La fille au bracelet“ bis zu Boris Lojkines starkem Biopic über die französische Kriegsfotografin Camille Lepage, die 2013/14 über den Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik berichtete, und Simon Birds charmanter und liebevoll gemachter Komödie „Days of the Bagnold Summer“, in der ein Teenager den Sommer mit seiner nervenden Mutter verbringen muss, spannte sich hier der Bogen. Mit „Diego Maradona“ fehlte auch ein Dokumentarfilm nicht, in dem Asif Kapadia allein mit Archivmaterial die Jahre des argentinischen Fußballstars speziell beim SSC Napoli und als Star der argentinischen Nationalmannschaft nachzeichnete.


Große Kracher mögen – Tarantinos „Once Upon a Time … in Hollywood“ ausgenommen - auf der Piazza gefehlt haben, aber immerhin wurde man meist gut unterhalten. Ärgernisse blieben einem erspart, dass aber ausgerechnet der kontrovers aufgenommene Thriller „Instinct“, in dem Halina Reijn mit starken Schauspielern und kühler Inszenierung von der zwischen Begehren und Angst schwankenden Beziehung zwischen einer Psychologin und einem inhaftierten Sexualstraftäter erzählt, den Variety Piazza Grande Award gewann, erstaunt doch etwas.


Etwas mehr eigenes Profil wird Lilli Hinstin dem Festival in den kommenden Jahren aber schon geben müssen, nur den Nachtvorstellungen mit der Bezeichnung „Midnight Crazy“ und dem experimentellen Kino mit „Moving Ahead“ einen neuen Namen zu geben, kann es nicht sein. Und auch ihr Verhältnis zum Schweizer Film wird die künstlerische Leiterin überdenken müssen.


Während die Franzosen in Cannes alljährlich ebenso stark präsent sind wie die Deutschen bei der Berlinale und die Italiener in Venedig, war die Schweiz auf der Piazza und im Wettbewerb zumindest heuer schwach vertreten. – Vielleicht gab es ja wirklich zu wenig passende Produktionen, dennoch bleibt beispielsweise offen, wieso Samirs solider und gesellschaftlich relevanter Thriller „Baghdad in my Shadow“ seine Weltpremiere in der Sektion „Fuori concorso“ und nicht auf der Piazza feierte.


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