Sowohl der portugiesischstämmige Schweizer Basil da Cunha in „O fim do mundo“ als auch Pedro Costa in „Vitalina Varela“ entführen den Zuschauer in ein Lissaboner Elendsviertel. – Die Filme freilich sind ganz unterschiedlich.
Am Beginn von Basil da Cunhas „O fim do mundo“ steht eine Taufe, die wie mehrere Szenen mit sakraler Musik überhöht wird. Mit diesem Ereignis korrespondiert quasi die Rückkehr des jungen Spira, der mehrere Jahre in einer Erziehungsanstalt verbrachte. Mit den Augen des schweigsamen Heimkehrers lässt da Cunha den Zuschauer das Viertel erkunden, in dem Bauprojekte den Lebensraum der armen, aus den ehemaligen Kolonien stammenden farbigen Bevölkerung bedrohen.
Atmosphärisch dicht schildert der 34-jährige Regisseur in starken, vorwiegend nächtlichen Bildern die Verhältnisse im Viertel, wenig entwickelt wird aber letztlich die Handlung um Spira, der mit zwei Freunden durchs Viertel streift, wieder seiner Freundin Iara begegnet und mit einem älteren Drogenboss in einen Konflikt gerät.
Als Milieustudie funktioniert „O fim do mundo“ so durchaus und stimmungsvoll verweisen ein Begräbnis am Ende, das einen Gegenpol zur Taufe am Anfang bildet, und eine lange Kamerafahrt über die Gesichter der Trauergäste auch auf das Ende dieses Viertels, doch insgesamt lässt der Film aufgrund der schwammigen Geschichte und Figuren, denen klare Konturen, Ecken und Kanten fehlen, doch unbefriedigt zurück.
Ein anderes Kaliber ist hier schon „Vitalina Varela“ von Pedro Costa, der schon 2014 für „Cavallo Denero – Horse Money“ in Locarno mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Auch er taucht in ein dunkles Elendsviertel von Lissabon ein, das scheinbar nur von Migranten von den Kapverdischen Inseln bewohnt wird.
Nie gewähren in dem im 4:3-Format gedrehten Film Totalen einen Überblick, eingesperrt wird man quasi in die engen Gassen und Wohnungen. Verstärkt wird dieses Gefühl der Enge noch durch die Lichtführung, denn abgesehen vom Ende ist keine Einstellung komplett ausgeleuchtet, sondern immer ein großer Teil in Dunkel getaucht.
Umso heller leuchten dafür bei diesem Film, der in seiner Arbeit mit dem Ciaroscuro und in seiner Farbintensität an Gemälde von Caravaggio erinnert, Details wie ein weißes Halstuch der Protagonistin, ein blutrotes Bettlaken oder T-Shirts an einer Wäscheleine.
Im Zentrum der Handlung steht die Mittfünfzigerin Vitalina Varela (auch die Schauspielerin heißt so), die nach dem Tod ihres Mannes, der schon vor 30 Jahren die Kapverdischen Inseln verlassen hat, aus ihrer Heimat nach Lissabon kommt. In langen Einstellungen hält sie nun Zwiesprache mit dem Verstorbenen, klagt über seine Emigration und darüber, dass sie allein zurückgelassen wurde, stellt den miserablen Wohnbedingungen und der Armut in Lissabon das großzügige Haus in der Heimat gegenüber, das sie einst zusammen mit ihrem Mann gebaut hat.
Fragmentarisch bleibt die Handlung, in der universell über Heimat und Migration, über Versprechungen des fremden Landes und bittere Realität reflektiert wird. Gleichzeitig setzt Costa mit der physisch sehr präsenten Laiendarstellerin den in der Heimat zurückbleibenden Frauen, die die Leidtragenden der Migration der Männer sind, ein Denkmal. - Fern von jedem Realismus bewegt sich dieser Film, setzt auf konsequente Stilisierung und Künstlichkeit, entwickelt aber durch seine stilistische Geschlossenheit und seine sensationelle Bildkraft einen Sog und eine Faszination, die „Vitalina Varela“ zu einem heißen Anwärter für den Goldenen Leoparden machen.
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