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AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Mutterschaft und Vaterrolle

Aktualisiert: 17. Aug. 2019


Während Maura Delpero in „Maternal“ sich feinfühlig und mit großem Ernst mit Fragen der Mutterschaft auseinandersetzt, stehen sich in Ulrich Köhlers und Henner Wincklers „Das freiwillige Jahr“ ein dominanter Vater und seine 18-jährige Tochter gegenüber. - Zwei überzeugende Beiträge im Rennen um den Goldenen Leoparden.


Abgesehen von einer Szene spielt Maura Delperos „Maternal“ ausschließlich in einem von Nonnen geführten Heim für alleinerziehende Mütter in Buenos Aires. Etwas schematisch, aber gerade dadurch wirkungsvoll stellt die italienische Regisseurin der lebenslustigen jungen Mutter Lu, die junge Ordensschwester Paola gegenüber, die kurz vor dem ewigen Gelübde steht.


Während Lu ständig redet, es im Heim kaum aushält und abends abhaut, um sich mit ihrem Freund zu treffen, verhält sich Paolo zurückhaltend und schweigt meist selig lächelnd. Der knappen Kleidung und den bunten T-Shirts der einen steht die weiße Ordenstracht, die den ganzen Körper bedeckt, der anderen gegenüber, der Distanz auch gegenüber dem eigenen Körper der Nonne, Lus Lust am körperbetonten Tanz. Als Lu aus dem Heim endgültig abhaut und ihre Tochter zurücklässt, kümmert sich Paola um die kleine Nina und entwickelt rasch mütterliche Gefühle.


Mit großem Ernst und ohne zu werten schildert Delpero in unaufgeregter Erzählweise, die dem Zuschauer Raum lässt, die beiden unterschiedlichen Frauen und wirft über Erzählungen der alten Nonnen von der Heiligen Familie Fragen nach heutigen Familienkonzepten und anhand des Verhaltens von Lu und Paola nach biologischer und sozialer Mutterschaft auf. - Wie geschaffen für den Preis der ökumenischen Jury scheint diese leise, aber eindringliche und nachwirkende Studie, aber auch gut möglich ist, dass am Ende gerade aufgrund der ganz offenen christlichen Momente letztlich ein anderer Film ausgezeichnet wird.


Während „Maternal“ in einem Haus spielt, bestimmt die Bewegung Ulrich Köhlers und Henner Wincklers „Das freiwillige Jahr“. Mit dem Verzicht auf Filmmusik und einer aus dem Alltag gegriffenen Geschichte setzt das Regie-Duo die Linie der Berliner Schule fort, doch im Gegensatz zu der unaufgeregten Erzählweise mit vorwiegend langen und distanzierten Einstellungen, die diese filmische Richtung vielfach bestimmt, kennzeichnet diesen Film eine hohe Schnittfrequenz und eine dynamische Kamera.


Über die Form wird so die Hektik und die Getriebenheit des Landarztes Urs vermittelt. Unmittelbar setzt „Das freiwillige Jahr“ damit ein, dass er seine Tochter Jette zum Flughafen bringen will, von wo sie zu einem freiwilligen Jahr nach Costa Rica fliegen soll. Doch schon der Stopp bei der Wohnung von Urs Bruder lässt seinen dominanten und übergriffigen Charakter zu Tage treten: Von einer verschlossenen Tür lässt er sich nämlich nicht aufhalten, sondern verschafft sich auch mit brachialer Gewalt Zutritt.


Aufgrund der Verzögerung bringt nun ihr Freund Mario Jette zum Flughafen, doch die 18-Jährige ist sich nicht sicher, ob sie wirklich für ein Jahr weg will, verpasst absichtlich den Flug und verbringt mit Mario eine Nacht im VW-Bus…


Differenziert und realistisch und unterstützt von den zwei starken Hauptdarstellern Sebastian Rudolph und Maj-Britt Klenke, deren Dialoge und Verhalten lebensecht wirken, arbeiten Köhler und Winckler in Begegnungen mit anderen Leuten und im Kontakt miteinander die Charaktere von Urs und Jette heraus. Dem Vater der über alle hinwegfährt, zwar erklärt, dass seine Tochter sich selbst entscheiden müsse, dann aber doch immer wieder selbst das Kommando übernimmt, steht die unsichere Jette gegenüber, die nicht genau weiß, was sie will. Nicht verwundern kann es bei diesem Mann, dass die Frau und Mutter sich wohl schon lange verabschiedet hat. Auch Jette wird wohl nur ein eigenes Leben und Glück finden können, wenn sie sich aus der Umklammerung löst.


Mit Fokussierung auf den beiden Hauptdarstellern und durch den Dreh an Originalschauplätzen atmosphärisch stimmig verankert in der deutschen Provinz um Köln gelang dem Regie-Duo eine starke Charakterstudie, bei der die innere Unruhe der beiden Protagonisten auch durch die ständigen Autofahrten nach außen gekehrt wird. Ständig sind sie unterwegs und kommen doch nicht vom Fleck und die im Titel angesprochene Freiwilligkeit steht in markantem Kontrast zum väterlichen Druck.


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