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AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Offener und neugieriger Blick

Aktualisiert: 17. Aug. 2019


Auch heuer wieder bot die vom Verband Schweizer Filmjournalisten organisierte Semaine de la critique mit sieben Dokumentarfilmen Einblicke in Welten, zu denen man sonst kaum Zugang hat. Die unaufgeregte Erkundung einer tadschikischen Kleinstadt konnte man mit „Murghab“ ebenso entdecken wie mit David Vogels „Shalom Allah“ das Porträt von vier Schweizern, die zum Islam konvertierten, dabei aber keineswegs den Klischeebildern entsprechen.


Verstörend ist der Einstieg von David Vogels „Shalom Allah“, wenn man einen bärtigen Mann in Kampfanzug nach dem Gebet im Garten bei Klimmzügen sieht. Das Klischeebild vom Islamisten schein hier bedient zu werden, doch Vogel bricht sogleich damit, wenn er klarstellt, dass sein Film gerade eine Reaktion auf die islamfeindlichen Bilder in den Medien sein soll.


Das Ziel von „Shalom Allah“ macht dabei schon der Titel deutlich, in dem Jüdisches und Islamischen aufeinandertrifft. Es geht eben – wie Vogel gegen Ende des Films auch explizit erwähnt – nicht um ein „entweder – oder“, sondern um ein „sowohl – als auch“, um Offenheit und Toleranz gegenüber der Haltung und Religion anderer.


Vier Schweizer, die zum Islam konvertierten, porträtiert Vogel dazu unvoreingenommen und offen. Er zeigt nicht nur, wie sich der Lausanner Johan, das Ehepaar Lo Manto und die Studentin Aicha mit ihrer neuen Religion auseinandersetzen und Verhaltensregeln wie Kopftuch und Ramadan annehmen, sondern macht in der Entwicklung Aichas auch bewusst, dass man eine Religion nie fix hat, sondern dass sich in den neuen Glauben auch wieder Zweifel mischen können, dass man sich wieder abwenden und neue Wege suchen kann. Aber auch die gesellschaftliche Ablehnung die seine Protagonisten aufgrund ihrer Konversion in der Schweiz erfuhren oder immer noch erfahren zeigt Vogel auf.


Gleichzeitig bringt sich der Regisseur auch selbst ins Spiel und reflektiert angesichts der Beschäftigung mit den Konvertiten seine eigene religiöse Entwicklung als Jude, der nach seiner Matura den Glauben verlor.


In die Ferne blicken dagegen Martin Saxer, Marlen Elders und Daler Kaziev in ihrem ethnographischen Dokumentarfilm „Murghab“. Die Regisseure selbst halten sich ganz zurück und überlassen den filmischen Raum der wüstenartigen Hochebene, in der die titelgebende tadschikische Kleinstadt liegt, und ihren Bewohnern. Mit sicherem Gespür für die Länge einzelner Einstellungen und Szenen wechselt das Regietrio zwischen Landschaftstotalen, Alltagsbeobachtungen und Kommentaren der Bewohner.


Immer wieder wird dabei angesprochen, dass die Verhältnisse zu Sowjetzeiten, als Murghab aufgrund der Nähe zu Afghanistan militärische Bedeutung hatte, besser waren und es heute keine Elektrizität und keine Zentralheizung mehr gibt und eine Milchfabrik geschlossen wurde. Unaufgeregt zeigt „Murghab“, wie mühsam und entbehrungsreich das Leben in dieser kalten und öden 3600 Meter hoch gelegenen Region ist und präsentiert damit auch eine Gegenwelt zur westlichen Konsum- und Luxusgesellschaft. Verzweifelt oder unglücklich wirken die Bewohner aber trotz dieser Entbehrungen nicht, sondern strahlen Gelassenheit aus, lösen ihre Probleme mit Erfindungsreichtum und zeigen am Ende auch, wie sie die Abwanderung der Jugend mit neuen Projekten verhindern wollen.


Gegenpol zu dieser zwar einfachen, aber friedlichen Welt ist das am Rand von Damaskus gelegene zerbombte Jarmuk, auf das Reza Farahmand in „Copper Notes of a Dream“ fokussiert. Einst lebten hier über 150.000 Menschen, seit der Zerstörung durch den IS ist die Zahl der Bewohner nach inoffiziellen Angaben auf weniger als 200 gesunken. Auf Totalen der zerbombten Häuser und Straßenzüge lässt Farahmand auf den 10-jährigen Malook blicken, der erklärt, dass das Leben eigentlich schön sein könne und er sich seine Zukunft einst anders vorgestellt habe.


Ganz auf Augenhöhe mit Malook und seinen etwa gleich alten Freunden bleibt der Film, folgt ihnen durch das zerstörte Viertel und bei ihren Versuchen Kupferleitungen aus den Ruinen zu ziehen, um damit Geld für ein Konzert aufzutreiben, das sie organisieren wollen.


Berührend erzählt „Copper Notes of a Dream“, der an Spielfilme wie Roberto Rossellinis „Germania anno zero“ oder Vittorio de Sicas „Schuhputzer“ erinnert, wie Kinder sich unter bedrückenden Verhältnissen durchschlagen und nicht unterkriegen lassen. Plastisch wird hier die Abwesenheit von Normalität spürbar, wenn ein Mädchen in einem zerbombten Haus ein Hochzeitskleid anprobiert oder in einer anderen Ruine an einer schwer beschädigten Tafel Schule gespielt wird. Und doch keimt auch immer wieder Hoffnung auf, wenn Mädchen die Trümmer farbig bemalen oder am Ende ein Lied über die Schönheit Syriens - die syrische Hymne ? -gesungen wird.


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