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AutorenbildWalter Gasperi

74. Locarno Film Festival: Bildmächtige russische "Medea" und österreichischer "Luzifer"

Aktualisiert: 14. Aug. 2021


Luzifer (Peter Brunner)

Zwei Höhepunkte im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden: Bildmächtig erzählt Peter Brunner in "Luzifer" von religiösem Wahn und menschlicher Gier, während Alexander Zeldovich die klassische Tragödie "Medea" ins Russland und Israel der Gegenwart transponiert.


In dem in streng katholischem Haus aufgewachsenen Ulrich Seidl hat Peter Brunner wohl einen idealen Produzenten gefunden. Intensiv hat sich Seidl nämlich selbst besonders im Dokumentarfilm "Jesus, du weißt" und in "Paradies: Glaube" mit der katholischen Religion auseinandergesetzt und Religion oder vielmehr ein religiöser Wahn steht auch im Zentrum von Brunners "Luzifer".

Abgeschieden auf einer Alp lebt hier eine Mutter (Susanne Jensen) mit ihrem erwachsenen Sohn (Franz Rogowski). Ganz von Gebeten und Ritualen ist ihr Leben bestimmt. Der Ausstieg aus dem Alkoholismus, in den sie vor Jahren aufgrund des jahrelangen Missbrauchs durch ihren Vater gestürzt ist, hat sie wohl in diesen Wahn getrieben, den sie nun ihrem Sohn indoktriniert und ihn damit auch wieder selbst missbraucht. Kaum ein Wort sprechen kann dieser Johannes, der von Franz Rogowski ebenso mit Inbrunst und Intensität gespielt wird wie die Mutter von Susanne Jensen.


Zunehmend gestört wird diese fast inzestuöse Beziehung durch Pläne für die Errichtung eines Skigebiets. Rot markierte Bäume weisen auf die geplanten Eingriffe in die Natur hin, doch die Mutter will die Alp nicht verkaufen. Sukzessive wird der Druck erhöht, denn kreist zunächst nur eine einzelne Drohne um das Haus, folgen bald ein Hubschrauber und schließlich eine Schlägertruppe, die die Mutter mit Alkohol abfüllt und zur Unterschrift des Kaufvertrags zwingt. In diesem Rückfall in den Alkoholismus sieht der Sohn wiederum einen Angriff des Teufels, auf den er mit einem Exorzismus reagiert.


Ebenso wortkarg wie bildgewaltig und konzentriert ist "Luzifer" mit der weitgehenden Beschränkung auf die Alp als Schauplatz und Mutter und Sohn als Protagonisten. In großartigen Landschaftstotalen beschwört Kameramann Peter Flinckenberg immer wieder die Schönheit der unberührten Bergwelt, die durch die Gier der Tourismusindustrie – oder der Menschen im Allgemeinen – bedroht ist. Moderne Welt und Natur treffen aber auch in der Opposition der Drohnen zum Adler, mit dem der Sohn immer wieder spielt, aufeinander.


So konkret hier aber auch Gesellschaftskritik geübt wird, so grundsätzlich wirft "Luzifer" auch Fragen nach der Existenz und dem Eingreifen Gottes und des Teufels auf, wenn alle Gebete und Rituale von Mutter und Sohn letztlich keine Wirkung zeigen, und schließlich die Drohnen aus der immer wieder ins Bild gerückten dunklen Felshöhle, in der das Böse zu hausen scheint, über die Alp herfallen.


Noch beeindruckender als Brunners Bildsprache ist die des Russen Alexander Zeldovich, andererseits erreicht seine "Medea" aber nicht die Konzentriertheit von "Luzifer", sondern wirkt überfrachtet und teilweise selbstverliebt in den Bildfindungen. Großartig sind schon die Totalen von grünen Wald- und Wiesenlandschaften, die der einleitenden Beichte, in der diese russische Medea ihre Vorgeschichte zusammenfasst, unterlegt sind. In Opposition stehen diese Bilder zu den braunen Wüstenbildern um Masada, wo der Film nach knapp 140 Minuten enden wird.


Nicht nur mit der Übersiedelung Medeas mit Alexej und ihren beiden Kindern von Russland nach Israel arbeitet Zeldovich mit klassischen Medea-Motiven, sondern ganz in der Nachfolge der Tragödie von Euripides kommt es zur Entfremdung des Paares und zum Kindermord. Auch weitere Motive wie Medeas Verjüngungszauber oder der Mord einer Rivalin werden mit den Anti-Aging-Cremes der modernen Medea, die Chemikerin ist, und dem Anzünden des Kleids einer Rivalin eingearbeitet.


Wichtiger als die Ehegeschichte erscheint Zeldovich aber die Sinn- und Glückssuche seiner Protagonistin. Sie lässt sich nicht nur mit unterschiedlichsten Personen auf Sex ein, sondern fragt auch nach der Religion, wirft mit der Begegnung mit einem Optiker die Frage nach der Erkenntnis und mit einem Uhrmacher, die nach der Zeit auf.


Übervoll an bildmächtigen, von starkem Sounddesign unterstützten Einstellungen von einem Blick aufs Meer über ein Betonwerk, eine Modeschau auf einem Hochhausdach und einer Szene in schicker Wohnung mit breiter Fensterfront mit Meerblick bis zur finalen Szene in Masada ist "Medea" damit. Immer wieder entwickelt diese Tragödie dabei auch eine Intensität, Wucht und Kraft, die an die Filme Andrei Swjaginzew erinnert, lässt es in der Überfülle an Szenen und angeschnittenen Themen aber auch an Stringenz vermissen und zerfällt in großartige Einzelteile. – Auf dem Radar behalten sollte man diesen Regisseur, der zwar schon 63 Jahre alt ist und schon mehrere Filme gedreht hat, aber international noch wenig bekannt ist, aber auf jeden Fall.


Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:

- Vorschau - Eröffnungsfilm "Beckett"

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