Schwierig ist immer die Programmierung des Eröffnungsfilms eines Filmfestivals. Einerseits sollte er über künstlerisches Niveau verfügen, andererseits auch ein breites Publikum ansprechen. Die Wahl des Netflix-Thrillers "Beckett" als Eröffnungsfilm des heurigen Locarno-Film Festival (4. – 14.8. 2021) konnte diese Ansprüche eher nicht erfüllen.
Komplizierter ist einiges aufgrund von Corona beim heurigen Locarno Film Festival: Alle Karten müssen vorab reserviert werden, bei Indoor-Vorführungen müssen durchgehend Masken getragen werden, bei anderen wieder ein Impf- oder Testzertifikat vorgewiesen werden.
Auch kein praktisches dünnes Programmheft gibt es heuer, sondern nur den offiziellen Katalog, aber nur noch in Englisch und Italienisch, nicht mehr in Deutsch und Französisch. Insgesamt scheint der neue künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro auch mit der – neben der englischen - vermehrten italienischen Untertitelung der Filme das Festival stärker auf Italien auszurichten.
Dafür spricht auch die Wahl des Thrillers Beckett. Zwar handelt es sich um eine englischsprachige Produktion, doch Regisseur ist mit Ferdinando Cito Filomarino ein Italiener. Der erste Eindruck dieser Eröffnung fällt aber so trüb und kühl aus wie dieser Regentag am Lago Maggiore aus. Irritieren kann schon der Auftakt, wenn auf das Insert des Festivals "Cinema ist back" das große rote "N" von Netflix folgt. Im Kino erlebt so "Beckett" zwar seine Weltpremiere, wird aber schon eine Woche später bei Netflix zum Streaming bereit stehen. Man muss ja Filme von Streamingdiensten nicht unbedingt komplett von Festivals ausschließen, ob man sie aber gleich exponiert als Eröffnungsfilm zeigen soll, darf man schon fragen.
Fürs Kino würde "Beckett" allerdings kaum taugen, sondern würde sowieso wohl nur für eine DVD-/Blu-ray-Auswertung in Frage kommen. Im Mittelpunkt der Handlung steht der von John David Washington gespielte Amerikaner Beckett – Vornamen bekommt er keinen –, der mit seiner Freundin – ein Kurzauftritt von Alicia Vikander - in Griechenland den Urlaub verbringt. Als diese bei einem Autounfall ums Leben kommt, kehrt Beckett nach kurzem Krankenhausaufenthalt an den Unfallort zurück und wird ab nun von Polizisten gejagt. Verzweifelt versucht er sich zur amerikanischen Botschaft durchzuschlagen, während auch ein politischer Hintergrund für seine Verfolgung ins Spiel kommt.
Während der großen Krise Griechenlands in den 2010er Jahren spielt "Beckett" und ein Konterfei von Präsident Obama in einem Büro betont diese historische Komponente. Der politische Hintergrund ist aber ein klassischer Hitchcockscher McGuffin, der einzig als Movens dient, aber im Grunde unerheblich für die ganze Handlung ist. Überhaupt wirkt "Beckett" mit dem pausenlos Verfolgten, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht, wie ein Ableger von Hitchcock-Klassikern wie "The 39 Steps" oder "North by Northwest". Problem ist freilich schon, dass man über diesen Protagonisten so wenig erfährt, dass man nur wenig Interesse für sein Schicksal entwickelt.
So stolpert Beckett per Unfall ebenso wie per Zufall – oder auf Englisch "per accident" für beides – in diese missliche Lage, muss sich einerseits von der Provinz nach Athen durchschlagen, weiß andererseits nie, wem er vertrauen kann und wer ihn verrät. Auch die Geschichte vom Durchschnittsbürger, der in der Extremlage über sich hinauswächst, erzählt Filmomarino, doch angesichts der grob gestrickten Handlung verliert "Beckett" bald jede Glaubwürdigkeit. Holprig folgt Actionszene auf Actionszene, bei denen Washingtons Schmerzensmann Unglaubliches aushalten und überstehen muss, bis der Film in einen finalen Kampf und einen Sprung von einem Parkhaus mündet, die nur noch comichaft lächerlich wirken. – Es bleibt zu hoffen, dass am Lago Maggiore sich in den nächsten Tagen nicht nur das Wetter, sondern auch die Filme bessern.
Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:
- Vorschau
- "Al Naher - The River" und "Nebesa - Heavens Above" (Wettbewerb) - Stefan Ruzowitzkys "Hinterland" - "Petite Solange" und "Soul of a Beast" (Wettbewerb)
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