
Während der Norweger Dag Johan Haugerud in "Dreams" anhand einer ersten Liebe vielfältige Fragen zu menschlichen Sehnsüchten und unterschiedlichen Wahrnehmungen aufwirft, macht Ameer Fakher Eldin in "Yunan" bewegend das Gefühl der Heimatlosigkeit und Entwurzelung eines in Deutschland lebenden Syrers erfahrbar.
Der norwegische Bibliothekar und Schriftsteller Dan Johan Haugerud, der erst 2020 im Alter von 56 Jahren seinen ersten langen Spielfilm drehte, schließt mit "Dreams" seine Trilogie "Osloer Stories" ab, die er mit "Sex" und "Love" 2024 begonnen hat. Die drei Filme sind voneinander unabhängig, doch in allen geht es – laut Pressetext - um die Komplexität menschlicher Beziehungen, um Sexualität und gesellschaftliche Normen.
Im Mittelpunkt von "Dreams" steht die 17-jährige Johanne, die im Voice-over über das große Glück, aber auch den Schmerz erzählt, den sie in ihrer ersten großen Liebe zur Lehrerin Johanna erfuhr. Der Blick ist damit retrospektiv, die Liebe ist schon vorüber, wenn der Film beginnt. Doch um diese Erfahrung zu bewahren und ein Verblassen zu verhindern, hat Johanne ihre Gefühle und Erlebnisse niedergeschrieben.
Niemand soll zunächst von dieser Niederschrift erfahren, auch nicht ausgedruckt soll sie werden, doch dann gibt Johanne den USB-Stick doch an ihre Großmutter weiter, um deren Meinung zu hören. Diese wiederum druckt das Manuskript nicht nur aus, sondern gibt es auch Johannes Mutter. Diskussionen über Missbrauch und mögliche Anzeige kommen angesichts der detaillierten Schilderungen von Berührungen und des Körpers der Lehrerin auf, andererseits sind Mutter und Großmutter auch begeistert von der literarischen Qualität des Textes.
Kontrastiert werden diese Gespräche über den Text von Rückblenden zur realen Beziehung Johannes zur Lehrerin. Während in Johannes Voice-over und in Blicken und Gesten intensiv das Gefühl dieser ersten Liebe und Schwärmerei erfahrbar wird, decken die Rückblenden auf, dass die Gymnasiastin in ihrer Niederschrift ihren Sehnsüchten und Fantasien freien Lauf ließ. Nie gab es hier nämlich Sex, sondern es blieb bei den Besuchen in der Wohnung der Lehrerin bei Nachhilfestunden im Stricken und allenfalls Umarmungen.
So wirft "Dreams", der einerseits sehr dialogreich, andererseits auch stimmungsvoll ins Ambiente von Oslo eingebettet ist, Fragen nach Realität und Sehnsüchten auf, zeigt aber mit den drei Generationen von Großmutter, Mutter und Enkelin auch unterschiedliche Positionen zu Liebe und Sex. Sichtbar wird das vor allem in einer starken Szene, in der die Großmutter und die Mutter über den Film "Flashdance" diskutieren, für den die Mutter als Zehnjährige schwärmte, den die feministische Großmutter aber wegen seiner konservativen bis reaktionären Geschlechterbilder ablehnte.
Gleichzeitig bleibt "Dreams" aber auch durchgängig ambivalent, wenn Johanne ihre Geschichte definitiv nicht als die ein "queeres Erwachens" interpretiert wissen will und die Lehrerin sich ganz im Gegensatz zur Mutter durch die Schwärmerei und die Fantasien Johannes selbst als Missbrauchte und Benützte sieht. Mit der Weitergabe des Manuskripts und Gedanken an dessen Veröffentlichung kommt aber auch die Frage auf, inwieweit man solche privaten Erlebnisse publizieren soll.
Mag der Redeschwall "Dreams" teilweise auch etwas ermüdend machen, so gelingt es Haugerud doch insgesamt mit großer Leichtigkeit und gleichzeitig sehr intelligent und wendungsreich wichtige Themen zu verhandeln und wird dabei auch von einem großartigen, fast ausschließlich weiblichen Ensemble bestens unterstützt.
Sehr wortkarg und sehr langsam erzählt dagegen der 1991 in Kiew als Sohn eines syrischen Ehepaars geborene Ameer Fakher Eldin in dem nach "Al Garib" ("The Stranger", 2021) zweiten Teil seiner "Homeland-Trilogie" von dem in Hamburg im Exil lebenden syrischen Autor Munir.
Da eine Untersuchung keine physiologische Erklärung für Munirs Atemnot bringt, empfiehlt ihm der Arzt eine Auszeit zu nehmen. So zieht sich der Mittfünfziger nach einem letzten Telefonat mit der in Syrien lebenden Mutter, die ihren Sohn aufgrund ihrer Demenz aber nicht mehr erkennt, auf die in der Nordsee gelegene Hallig Langeneß zurück, um dort Selbstmord zu begehen.
Weist die Gastwirtin (Hannah Schygulla) ihn zunächst ab, da er nicht reserviert hat, erbarmt sie sich doch des Mannes, als sie seine Verlorenheit bemerkt. Während ein mächtiger Sturm aufzieht, die die Hallig mit Ausnahme der auf Hügeln erbauten Häuser überflutet, erwacht bei Munir durch die Freundlichkeit der Wirtin langsam wieder der Lebenswille.
Man braucht vielleicht gewisse Zeit, um in diesen Film mit seinen langen Einstellungen und seinen langsamen Schwenks hineinzukommen, doch dann entfaltet "Yunan" zunehmend Sog. Eingebettet in die Landschaft der Hallig Langeneß, deren beinahe vollständiges Versinken im Meer und wieder auftauchen auch eine Metapher für Munirs Entwicklung ist, entwickelt sich ein von tiefer Melancholie durchzogenes Porträt des Schmerzes und der Entwurzelung eines Exilanten.
Eine große Rolle bietet "Yunan" dabei Hanna Schygulla, die als Gastwirtin so viel Wärme und Einfühlungsvermögen ausstrahlt, dass Munirs Aufblühen jederzeit glaubhaft und nachvollziehbar bleibt.
Kraft entwickelt der Film aber auch durch seine großartigen Landschaftstotalen. Dem eindrücklich eingefangenen mächtigen Sturm und dem Grün der Wiesen von Langeneß stellt Eldin prägnant das Braun einer wüstenhaften Landschaft gegenüber. In letzterer spielt eine Parabel von einem heimatlosen Schäfer, die Munir einst von seiner Mutter erzählt wurde und an die er sich nun immer wieder erinnert.
So gegensätzlich diese Landschaften sind, so sehr verbindet sie doch ihre Weite und die Präsenz der Schafe, durch die die Diskrepanz aufgehoben wird und der Gedanke, dass Heimat kein geographischer Ort ist, sondern ein Gefühl der Geborgenheit und inneren Ruhe ist, auch über die visuelle Ebene vermittelt wird.
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