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75. Berlinale: Goldener Bär für Dag Johan Haugeruds "Dreams" – Ein Resümee

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi
Dag Johan Haugeruds "Dreams" gewinnt bei der 75. Berlinale den Goldenen Bären
Dag Johan Haugeruds "Dreams" gewinnt bei der 75. Berlinale den Goldenen Bären

Statt dem einen oder vielleicht auch zwei bis drei wirklich herausragenden Filmen bot der Wettbewerb der heurigen Berlinale viele sehr beachtliche Filme und eine große Vielfalt. – Die Preisverleihung der Internationalen Jury und der unabhängigen Juries spiegelt diese Bandbreite ebenso wie das Fehlen eines klaren Favoriten.


19 Filme liefen im Wettbewerb der heurigen Berlinale. Auffallend waren vielleicht die wiederkehrenden Kinderperspektiven vom chinesischen Film "Living the Land" über Frédéric Hambaleks "Was Marielle weiß", in dem das Kind im Grunde aber nur ein Katalysator für die Handlung ist, bis zum argentinischen Roadmovie "El mensaje – The Message" und dem Bären-Sieger "Dreams" oder die Dominanz von Frauenfiguren von "Hot Milk" über "La tour de glace" und "If I Had Legs, I´d Kick You" bis zu Johanna Moders "Mother´s Baby" und dem chinesischen Film "Girls on Wire".


Letzteres kann damit zusammenhängen, dass mit der Amerikanerin Tricia Tuttle erstmals eine Frau als künstlerische Leiterin fürs Programm verantwortlich zeichnet, kann aber auch Resultat der verfügbaren Filme sein. Denn mehr als diese Akzente fiel vor allem die Vielfalt der Wettbewerbsfilme auf.


Da gab es mit "Blue Moon" von Richard Linklater ein Kammerspiel, das dem klassischen Hollywood-Kino huldigt, während Kateryna Gornostai in ihrem Dokumentarfilm "Strichka Chasu – Timestamp" ein Kaleidoskop des Schullebens in der vom Krieg erschütterten Ukraine zeichnet und die ungebrochene Lebensfreude der Schüler:innen feiert. Mit "Reflet dans un diamand mort" von Hélène Cattet und Bruno Forzani gab es ein Spiel mit dem europäischen Agentenfilm der 1960er Jahre, das mit brillanter Oberfläche erfreuen konnte, aber gleichzeitig in der Reduktion auf Versatzstücke und Verzicht auf jeden konkreten Inhalt pure L´art pour l´art blieb.


Ein Crowdpleaser fehlte mit Gabriel Mascaros Fluss-Reisefilm "The Blue Trail – O último azul" so wenig wie mit Mary Bronsteins "If I Had Legs, I´d Kick You" ein formal radikales Porträt einer psychisch schwer angeschlagenen Mutter. Der Koreaner Hong Sangsoo ließ in "What Does that Nature Say to You" ein weiteres Mal seine Protagonist:innen in erster Linie reden, essen und viel trinken und Hybride zwischen Genrekino und Drama gab es mit "Mother´s Baby" und "Girls on Wire".


So blieb der Wettbewerb über acht Tage anregend, ließ aber auch herausragende Produktionen, die alle begeistern, vermissen. Insgesamt bot Tricia Tuttle in ihrem ersten Jahr zwar ein sehr solides Programm, doch wenn sie mit dem Ziel engagiert wurde, dass sie die Berlinale wieder an die Festivals von Cannes und Venedig heranführen soll, dann wurde dieses Ziel definitiv nicht erreicht. Zementiert hat sich vielmehr der Abstand auch deshalb, weil sich die Liste der heuer für Cannes gehandelten Regisseur:innen wieder wie ein Who is Who? des aktuellen Weltkinos liest, während man sich beim Wettbewerb der Berlinale vielfach fragte "Who is this director?".


Der Goldene Bär – sowie der Preis der Internationalen Filmkritiker (FIPRESCI) für Dag Johan Haugeruds "Dreams", mit der der Norweger seine "Osloer Stories" betitelte Trilogie abschließt, geht so durchaus in Ordnung. Ein Kompromisskandidat war das wohl, auf den sich alle einigen konnte, während der Große Preis der Jury sowie der Preis der Ökumenischen Jury an den herzerwärmenden, aber auch etwas harmlosen "The Blue Trail – O último azul" vergeben wurde.


Für China gab es für Huo Meng mit "Living the Land" den Silbernen Bären für die beste Regie, während der Preis der Jury doch etwas überraschend an "El mensaje – The Message" des Argentiniers Iván Fund verliehen wurde. Großartig sind zweifellos die Schwarzweißbilder der argentinischen Pampa, doch handlungsmäßig tritt dieses Roadmovie, um ein Mädchen, das angeblich mit Tieren kommunizieren kann und so deren Besitzer:innen Trost spendet, doch ziemlich auf der Stelle.


Klassisches US-Kino wurde mit der Auszeichnung Andrew Scotts als bester Nebendarsteller für seine Leistung in "Blue Moon" gewürdigt und schwer zu übergehen war die herausragende Performance von Rose Byrne in "If I Had Legs I´Kick You", die als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Mit mehr Mut zum Risiko hätte man diesem Film freilich auch den Hauptpreis geben können.


Gesellschaftskritisches osteuropäisches Kino wurde wiederum mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch für Radu Judes "Kontinental ´25" gewürdigt und in Ordnung geht auch der Silberne Bär für eine herausragende künstlerische Leistung für das kreative Ensemble von Lucile Hadžihalilovićs "La tour de glace", in dem Kunstfertigkeit ausgiebig zelebriert wird.


Eine markante eigene Note wies der erste von Tricia Tuttle verantwortete Wettbewerb nicht auf, Akzente setzte sie aber mit der Schaffung der neuen Sektion "Perspectives". Spannende Entdeckungen konnte man in dieser Erstlingsfilmen vorbehaltenen Schiene machen. So erzählt Constanze Klaue in "Mit der Faust in die Welt schlagen" stimmig von Perspektivlosigkeit im Sachsen der frühen 2000er Jahre, dem langsamen Zerfall einer Familie und dem wachsenden Rechtsextremismus, während den Inder:innen Tanushree Das und Saumyananda Sahi mit "Baksho Bondi – Shadowbox" ein starkes Familien- und Sozialdrama um eine Frau und Mutter, die unverbrüchlich zu ihrem kranken Mann hält und mit unermüdlicher Kraft um den Erhalt ihrer Familie kämpft, gelang.


Bleiben wird von dieser Berlinale – berücksichtigt werden können freilich nur die Filme, die man gesehen hat - aber vor allem Philipp Dörings vierstündiger Dokumentarfilm "Palliativstation", der in der Sektion "Forum" seine Premiere feierte: Frau Schulz, Herr Dickhoff und Frau Rachwal werden einem noch lange in Erinnerung bleiben, auch wenn sie inzwischen sehr wahrscheinlich schon verstorben sind.


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