
Zu den aktuellen Tendenzen im Kino gehört die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen im Gewand eines Genrefilms. Auch Johanna Moder schlägt in "Mother´s Baby" diesen Weg ein, weckt doch schon der Titel Assoziationen an Roman Polanskis Klassiker "Rosemary´s Baby". In Frédéric Hambaleks "Was Marielle weiß" deckt dagegen ein Teenager mit seiner mysteriösen Gabe die Lügen der Eltern auf.
Die 46-jährige Grazerin Johanna Moder hat mit ihrem nach "High Performance – Mandarinen lügen nicht" (2014) und "Waren einmal Revoluzzer" (2019) dritten Spielfilm den Sprung in den Wettbewerb der Berlinale geschafft. Die komödiantischen oder tragikomischen Töne ihrer bisherigen Filme lässt sie in "Mother´s Day" hinter sich und legt ein konzentriertes Drama vor, in das sich langsam Momente eines Horrorfilms einschleichen.
Zügig treibt Moder die Handlung voran, wenn man das Paar Julia und Georg zunächst auf einem Vergnügungspark, dann in einer hochmodernen Geburtsklinik sieht. Georgs klarem Kinderwunsch steht Julias Unsicherheit gegenüber, doch unmittelbar nach einem gefeierten Konzert der 40-jährigen Dirigentin folgt schon die Geburt.
Detailreich und ausführlich schildert Moder diese, macht die Anstrengung und Schmerzen der Mutter ebenso wie die Komplikationen erfahrbar, wenn das Baby unmittelbar nach der Geburt vom Arzt und seinem Team mitgenommen wird und die Eltern – ebenso wie die Zuschauer:innen - verunsichert zurückbleiben. Banges Warten folgt, bis der Arzt zurückkehrt, erklärt, dass alles in Ordnung sei, und bald auch das Baby wieder bringt.
Nicht nur sehr realistisch wirkt diese Geburtsszene, sondern strahlt wie der ganze Film durch das kalte Licht und die Dominanz von Blau- und Grautönen sowie die winterliche Stimmung in den Außenszenen auch Nüchternheit und Kälte aus.
Konzentriert entwickelt Moder die Handlung weiter, wenn Julia zunächst unsicher auf ihr Kind reagiert, dann der obligate Besuch von Verwandten und Freunden folgt. Alle freuen sich über das Kind, liebevoll kümmert sich auch der Vater um es, doch bei Julia wachsen die Ängste, dass etwas mit ihrem Baby, das für sie zu ruhig und zu wenig schmerzempfindlich ist, nicht stimmt.
Bei Arztbesuchen wird zwar attestiert, dass mit dem Kind alles in Ordnung sei, sodass bei Julias Umwelt die Überzeugung wächst, dass sie an einer postnatalen Depression leidet. Sie selbst dagegen steigert sich in den Verdacht hinein, dass in der hochmodernen Geburtsklinik mit verbrecherischen Methoden gearbeitet wird.
Stringent entwickelt Moder die Handlung, kann auf ein exzellentes Ensemble vertrauen und streut mit Musikeinsatz und Kameraperspektiven sukzessive mehr Horrormomente in den realistisch verankerten Film. Konsequent entwickelt sich "Mother´s Baby" so auf einen Kipppunkt zu, an dem die Entscheidung zwischen Mutterdrama über postnatale Depression und Horrorfilm fallen muss.
Zumindest nach außen hin leichtere Töne schlägt Frédéric Hambalek in "Was Marielle weiß" an. Alles beginnt hier mit einer in extremer Zeitlupe gefilmten schallenden Ohrfeige, die eine Schulfreundin der 13-jährigen Marielle verpasst. Von nun an kann der Teenager alles sehen und hören, was ihre Eltern machen.
So durchschaut Marielle die Lügen, die beim Abendessen über den Arbeitstag erzählt werden, weiß genau, dass der als Lektor arbeitende Vater im Büro nicht so überlegen und souverän agiert, wie er das zu Hause darstellt, und dass die Mutter mit einem Arbeitskollegen verbal sexuelle Fantasien austauscht. Sukzessive steigert Hambalek in seinem zweiten Spielfilm, der durch in verschiedene Farben getauchte Großaufnahmen von Marielle in Kapitel gegliedert wird, die Handlung, wenn das Wissen Marielles zur Manipulation genutzt wird und auch die unangenehmen Folgen radikaler Ehrlichkeit und Offenheit sichtbar werden.
Wenn Hambalek vor allem am Beginn auch mit Perspektiven arbeitet, die Überwachungskameras nachahmen, thematisiert diese bestechend aufgebaute Versuchsanordnung auch das zunehmende Verschwinden der Privatsphäre in einer Zeit omnipräsenter Kameras, zeichnet aber gleichzeitig und vor allem ein messerscharfes Bild der Heuchelei und Lügen des gehobenen Bürgertums.
Knappe, treffsichere Dialoge, trockener Erzählton und ein bestens harmonierendes Ensemble sorgen dabei bei dieser Komödie, die an Ruben Östlunds "Höhere Gewalt – Turist" oder auch an die Filme von Yorgos Lanthimos erinnert, für intelligente Unterhaltung, bei der einem immer wieder das Lachen im Hals stecken bleiben kann.
Weitere Berichte zur 75. Berlinale:
Lucile Hadzihalilovic´ "La tour de glace" + Gabriel Mascaros "The Blue Trail"
Mary Bronsteins "If I Had Legs, I´d Kick You" und Yunan Qus "Girls on Wire"
Richard Linklaters "Blue Moon" und Radu Judes "Kontinental 25"
Dag Johan Haugeruds "Dreams" und Ameer Fakher Eldins "Yunan"
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