Vielfältig präsentierte sich der Wettbewerb des heurigen Locarno Film Festival, doch vor dem libanesischen Abschlussfilm fehlt noch ein herausragender Beitrag. Preisverdächtig scheint aber unter anderem "Tengo suenos electricos" von Valentina Maurel, während Ann Orens experimenteller deutscher Beitrag "Piaffe" Chancen auf einen Nebenpreis haben könnte.
Die Spannungen, die der Titel "Tengo suenos electricos – Ich habe elektrische Träume" andeutet, ziehen sich durch den ganzen Film von Valentina Maurel. Schon bei der Autofahrt durch eine namenlos bleibende Stadt Costa Ricas schaukelt sich ein Streit zwischen den Eltern über die Lautstärke des Autoradios langsam hoch, während die 15-jährige Eva und ihre achtjährige Schwester Sol ruhig auf dem Rücksitz sitzen.
Als der Vater bei der Ankunft die Garagentür nicht öffnen kann, entlädt sich seine Wut an der Tür: Sichtlich ein Choleriker ist das und solche Wutausbrüche, die dazu führen, dass sich die kleine Sol anpinkelt, dürfte es immer wieder gegeben haben. Nun hat sich die Mutter scheiden lassen, will mit ihren beiden Töchtern das Haus renovieren, während sich der Vater eine Wohnung suchen soll.
Doch Eva, die auch die erwachende Sexualität verunsichert, möchte lieber beim Vater leben, der ihr mehr Freiraum lässt. Sie hilft ihm auch bei der Suche nach einer Wohnung, doch echtes Interesse, dass seine Tochter bei ihm einzieht, scheint er nicht zu haben.
Ganz aus der Perspektive des von Daniela Marin Navarro herausragend gespielten Teenagers erzählt, vermittelt "Tengo suenos electricos" eindrücklich Evas Sehnsucht nach Nähe ebenso wie ihre Neugierde und das Erwachen ihrer Sexualität. Doch der Nähe steht immer auch die Gefahr eines Übergriffs gegenüber, wenn beispielsweise ein Freund des Vaters die Gelegenheit ausnützt und mit ihr schläft, der Zärtlichkeit immer wieder Momente der Gewalt.
Ganz eigene Qualitäten gewinnt so diese Coming-of-Age-Geschichte durch die Verankerung in einem costa-ricanischen Milieu, in dem Gewalt allgegenwärtig zu sein scheint, und durch die Differenziertheit und Vielschichtigkeit, mit der Maurel die Befindlichkeit Evas und ihre labile Umbruchsphase auslotet.
Während "Tengo suenos electricos" ein durchaus konsensfähiger Film ist, auf den sich die Jury bei ihrer Entscheidung einigen könnte, dürfte "Piaffe" der Künstlerin und Filmemacherin Ann Oren Publikum und Kritik ähnlich spalten wie Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh".
Der Titel "Piaffe" bezieht sich dabei auf einen Begriff im Dressurreiten, bei dem das Pferd im Stehen trabt. Dieses Trabgeräusch soll auch die schüchterne Eva, die als Vertretung für ihren in die Psychiatrie eingelieferten Bruder als Geräuschemacherin arbeitet, für einen Werbeclip produzieren. Wenig erfolgreich sind aber ihre Versuche im häuslichen Stuio mit unterschiedlichsten Materialien, sodass sie der verärgerte Regisseur auffordert, in die Natur hinauszugehen.
Mit der Weitung ihres Lebensraums öffnet sich aber Eva nicht nur sukzessive und wird selbstbewusster, sondern ihr wächst auch ein immer längerer Pferdeschwanz. Gleichzeitig entwickelt sich auch eine Beziehung zu einem Botaniker, der in ihrem Peepshow-artigen Kino einen Film über Farne anschaut und über deren komplexe Sexualität spricht. Und tatsächlich entwickeln diese Bilder, der sich aufrichtenden und streichelnden Farne, erotische Qualität, während Eva andererseits durch das Streicheln ihres Pferdeschwanzes stimuliert wird.
So geht es einerseits um das Auflösen von Gendergrenzen, andererseits um das Heraustreten aus der Unsichtbarkeit und schließlich auch um die Schärfung der Sinne. Denn wie der einleitende Blick durch die Gucklöcher des seltsamen Kinos zum Sehen einladen, so spielt der auf 16-mm gedrehte Film auch immer wieder mit Farb- und Filmfehlern mit dem Sehen, während die Versuche Evas das perfekte Geräusch zu produzieren das Hören schärfen können. – Den Konventionen des Kinos widersetzt sich dieser Film, der mit alten Apparaturen oder einem Telefon mit Wählscheibe auf der einen Seite und einem modernen Techno-Sex-Club völlig aus der Zeit gefallen wirkt, konsequent, wirkt aber gerade durch seine Originalität erfrischend.
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