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AutorenbildWalter Gasperi

76. Locarno Film Festival: Enigmatisches Kopfkino und bewegende Einfachheit

Aktualisiert: 12. Aug. 2023


Sperriges Kopfkino präsentierte die Spanierin Laura Ferrés mit ihrem Debüt "The Permanent Picture" im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden, bestechend einfach und stimmig vom ersten bis zum letzten Bild ist dagegen "Stepne" der Ukrainerin Maryna Vroda.

Das Spannende an einem Filmfestival ist auch, wie man an einem Tag völlig unterschiedliche Filme unmittelbar hintereinander sehen kann. Präsentierte sich der Wettbewerb um den Goldenen Leoparden bislang weitgehend als sehr zugänglich, so gab es mit "The Permanent Picture" von Laura Ferrès den ersten Film, der Erinnerungen an die von sperrigen Werken dominierten Wettbewerbe des früheren künstlerischen Leiters Carlo Chatrian weckte.


Spannung erzeugt zwar die erste Szene, in der sich in ein Foto einer Frau und ihrer Tochter bei der Entwicklung durch Doppelbelichtung wie ein Geist der Kopf des Vaters hineinschleicht. Der Vater wird im Film abwesend bleiben, die Tochter dagegen im ländlichen Andalusien der 1960er Jahre als 12-Jährige schwanger werden und nach der Geburt ihres Kindes ihre Heimat Richtung Katalonien verlassen.


Mit einem Schnitt überspringt Ferrès 50 Jahre und lässt "The Permanent Pictures" mit Blick auf eine von Autobahn und Eisenbahn bestimmte Vorstadtlandschaft neu beginnen. Hier arbeitet die introvertierte 50-jährige Carmen bei einer Werbeagentur. Zuständig ist sie fürs Casting passender Personen für die unterschiedlichen Kampagnen. So stößt sie auf die einsame Antonia und langsam scheinen sich die beiden Frauen näher zu kommen.


Das klingt nach einer linearen Geschichte, doch in der bruchstückhaften Erzählweise und dem wiederholten Spiel mit der Bildproduktion widersetzt sich "The Permanent Picture" einer einfachen Interpretation: Welche Rolle spielt da beispielsweise ein Heiligenbild in der Eröffnungsszene und was will der Film uns mit sich durch Künstliche Intelligenz stets verändernden Porträtaufnahmen sagen. Worauf will Ferrès verweisen, wenn die Werbeagentur gerade an einer Kampagne für eine katalanische Partei arbeitet, die eine Wende verspricht, und welche Aussage enthält eine Szene in einem Kino, in der sich das wogende Meer auf der Leinwand ins Kino ausbreitet.


Wenn die Gesichter von Carmen und Antonia in einer Spiegelszene zur Deckung gebracht werden, soll das wohl auf eine Seelenverwandtschaft verweisen, doch offen lässt der Film, ob es sich hier um Mutter und Tochter aus der Eröffnungsszene handelt. Immer wieder faszinierend sind so einzelne Szenen, aber zu einem schlüssigen Ganzen lassen sich diese zumindest nach erstmaligem Sehen kaum fügen und lassen die Zuschauer:innen so ziemlich irritiert und wohl auch frustriert zurück.


Ungleich zugänglicher ist da "Stepne" der Ukrainerin Maryna Vroda, die einen Mann auf den Hof seiner sterbenden Mutter zurückkehren lässt. Vom ersten Bild an, wenn ein alter Bus über eine Schlaglochpiste durch eine von kahlen Bäumen und einzelnen Schneefeldern dominierte Ebene fährt, wird die winterlich-triste Stimmung eines postsowjetischen Landes evoziert.


Unterstützt von der Nachbarin, kümmert sich der Mann liebevoll um die demente Mutter, die den Sohn zeitweise nicht mehr erkennt. Als die Mutter stirbt, reist auch der zweite Sohn an. Ein Sarg wird geschreinert, die Frau wird begraben und beim Totenmahl erzählen die knorrigen alten Nachbarn aus ihrem Leben. Doch auch der Hof muss verkauft werden, das Inventar wird an die Nachbarn verschenkt und mit der Setzung des Grabsteins verabschieden sich die Brüder endgültig von der Mutter.


Bestechend ist dieser Film in seinem von langen Einstellungen dominierten langsamen Erzählrhythmus und der detailreichen, quasidokumentarischen Evokation einer aus der Zeit gefallenen Welt. Die Dominanz von dunklen Farben verstärken die bedrückende Stimmung, während die meisterhafte Ausleuchtung der Innenszenen immer wieder Wärme verbreiten.


Verankert in einer zeitlich nicht näher bestimmten postsowjetischen Ukraine entwickelt sich so im genauen und unendlich geduldigen Blick auf die Menschen, den Tod der Mutter und die damit verbundenen Handlungen ein universeller und zeitloser Film über Verlust, Abschied und Verschwinden des Alten. – So einfach und klein im Grunde die erzählte Geschichte ist,so bewegend ist dieser Film in seiner vom ersten bis zum letzten Bild stimmigen und wunderbar runden Inszenierung.


Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"


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