Vielfältig und stärker als in früheren Jahren war der Wettbewerb des heurigen Locarno Film Festivals. Etwas überraschend ging der Goldene Leopard an Ali Ahmadzadehs iranischen Untergrundfilm "Critical Zone – Mantegheye bohrani". Weniger überzeugend als der Wettbewerb war das Programm der Piazza Grande.
In der Verleihung des Goldenen Leoparden an den ohne Genehmigung des iranischen Regimes gedrehten "Critical Zone – Mantegheye Bohrani" kann man auch ein politisches Statement für die Freiheit der Kunst und gegen Repression lesen. Im Gegensatz zu dieser doch überraschenden Entscheidung wurden die weiteren Preise unter den erwarteten Favoriten aufgeteilt.
So vergab die von Lambert Wilson geleitete Jury den Spezialpreis der Jury an Radu Judes ebenso wilden wie furiosen Bukarest-Film "Do Not Expect Too Much of the End of the World", während der bestechend schöne und wunderbar geschlossene "Stepne" der Ukrainerin Maryna Vroda mit dem Regiepreis und zudem mit dem Preis der Filmkritiker (FIPRESCI) ausgezeichnet wurde.
Von der Aufführung von Sofia Exarchous "Animal" am ersten Festivaltag an empfahl sich auch Dimitra Vlagopoulou für den Preis für die beste Schauspielerin. Deren Auszeichnung überzeugt ebenso wie die Ehrung der Niederländerin Renée Soutendijk für ihre Leistung in Ena Sendijarević´ "Sweet Dreams". Zu erwarten war angesichts der Flüchtlingsthematik auch ein Preis für Sylvain Georges "Nuit obscure – Au revoir ici, n´importe où", de reine Lobende Erwähnung erhielt.
Im Parallel-Wettbewerb "Cineasti del presente" ging der Hauptpreis zwar an "Hao Jiu Bu Jian – Dreaming & Dying" des Singapurers Nelson Yeo, doch auch das deutsche Kino ging hier mit dem Regiepreis für Katharina Huber für "Ein schöner Ort" und dem Darstellerpreis für Clara Schwinning in demselben Film sowie einem Darstellerpreis für Isold halldórudóttir und Stavros Zafeiris für ihre Leistungen in Claudia Rorarius´ starkem "Touched" nicht leer aus.
Die Ökumenische Jury wiederum zeichnete Simone Bozzellis "Patagonia" aus und vergab eine Lobende Erwähnung an Radu Judes "Do Not Expect Too Much of the End of the World", während der European Cinema Label Award "Yannick" zugesprochen wurde.
Insgesamt überzeugte der 17 Filme umfassende Hauptwettbewerb durch seine Vielfalt. Mangelware blieben sperrige Filme, wie sie der frühe künstlerische Leiter Carlo Chatrian forcierte. Renommierte Namen fanden sich mit Radu Jude, Lav Diaz und Quentin Dupieux neben Newcomern. Klassisches Arthouse-Kino dominierte, daneben gab es aber auch Dupieuxs sehr unterhaltsamen "Yannick". Auch ein Dokumentarfilm fehlte im Wettbewerb mit "Nuit obscure – Au revoir ici, n´importe où" nicht und mit Eduardo Williams "El auge del humano" war auch ein Experimentalfilm vertreten, in dem 120 Minuten lang zusammenhanglos spektakuläre Plansequenzen aneinandergereiht werden.
Mit "Nähtamatu võitlus - The invisible Fight" des Esten Rainer Sarnet gab es zum Abschluss des Wettbewerbs sogar noch eine durchgeknallte Kung Fu-Komödie, in der sich in der Sowjetunion der 1970er Jahre ein Hardrock-Fan um die Aufnahme in ein orthodoxes Kloster bemüht. Witzige Momente fehlen dabei zwar nicht, aber über fast zwei Stunden ermüdet diese Blödelei doch.
Fragen darf man sich bei den Wettbewerbsfilmen, welche hier einen Verleih finden werden und den Sprung ins Kino schaffen. – Den wenigsten wird wohl dies gelingen und gerade im Vergleich mit dem Cannes-Sieger "Anatomie d´une chute", der auf der Piazza Grande gezeigt wurde, zeigt sich auch das Gefälle zwischen der Luxus-Veranstaltung an der Côte d´Azur und Locarno.
Während in Cannes und auch in Venedig im Wettbewerb vielfach auch großes Kino geboten wird, bäckt man in Locarno zumindest im Wettbewerb absichtlich oder gezwungenermaßen kleinere Brötchen. Ausgleich dazu sollte aber das Programm der Piazza Grande bieten, doch dieses konnte heuer zum wiederholten Male nicht überzeugen.
Gerade die Programmierung der Cannes-Filme "Anatomie d´une chute" und "The Old Oak" von Ken Loach, der zwar kaum zu den besten Filmen des britischen Sozialrealisten zählt, aber in Locarno den Publikumspreis gewann, macht die teils dürftige Qualität der anderen vielfach als Weltpremiere gezeigten Piazza-Filme bewusst.
Mehr als großartige Schwarzweißbilder hat nun mal Luc Jacquets Antarktis-Dokumentarfilm "Voyage au pôle Sud" kaum zu bieten und über flotte 1970er Jahre Unterhaltung kommt der zwischen Komödie, Krimi und Actionfilm pendelnde koreanische "Milsu – Smugglers" nicht hinaus. Für eine der wenigen positiven Überraschungen sorgte hier "Première affaire – First case", in dem Victoria Musiedlak kompakt und spannend vom Wandel einer unerfahrenen jungen Anwältin zum eiskalten Profi erzählt.
Wenn allerdings auf der Piazza, die immerhin um die 8000 Zuschauer:innen fasst, echte Filmbegeisterung aufkommen soll und das Festival jeden Abend zu einem echten Filmfest werden soll, dann sollte man sich deren Programmierung grundsätzlich überlegen: Ist es wirklich sinnvoll, hier durchschnittlichen Filmen eine große Bühne für die Weltpremiere zu bieten, statt wie die Viennale oder auch San Sebastian mit der Schiene Perlas Filmleidenschaft mit einer Auswahl der Festival-Highlights des letzten Jahres oder übersehenen Perlen zu wecken.
Die vollständige Liste der Preisträger finden Sie hier.
Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"
- Sofia Exarhous "Animal" und Quentin Dupieux´s "Yannick" - Radu Judes "Do Not Expect Too Much of the End of the World" und Basil Da Cunhas "Manga D´Terra"
- Schwächelnde Piazza: "La bella estate", "La voie royale" und "Anatomie d´une chute"
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