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AutorenbildWalter Gasperi

76. Locarno Film Festival: Sehnsucht nach Nähe und Anerkennung

Aktualisiert: 12. Aug. 2023


In Simone Bozzellis Wettbewebsbeitrag "Patagonia" schließt sich ein etwas zurückgebliebener Mann einem Kinder Clown an, der ihn aber immer wieder manipuliert und ausnützt. In Claudia Rorarius´ in der Schiene "Cineasti del presente" uraufgeführtem "Touched" versucht dagegen eine schwer übergewichtige Krankenpflegerin ihre Sehnsucht nach Nähe und Liebe durch einen querschnittgelähmten Patienten zu stillen.


Vom ersten Moment an ist man durch die nah geführte, bewegliche Handkamera mitten in Simone Bozzellis "Patagonia" drin. Irritiert hier schon, wie zurückhaltend und unsicher Yuri (Andrea Fuorto) beim Kauf eines Hundewelpen agiert, so ist bald klar, dass der junge Mann etwas zurückgeblieben ist.


Fasziniert ist er aber bei einem Kindergeburtstag vom Clown Agostino (Augusto Mario Russi), der ihn zwar scheinbar als Assistenten einbaut, doch gleich darauf vor den Kindern bloßstellt. Dennoch verlässt Yuri heimlich die Tante, bei der er lebt, und zieht mit Agostino in dessen Camper durch Süditalien, bis sie in einem Lager von Schaustellern hängen bleiben. Yuri bleibt aber bei Agostino, denn er glaubt dessen Geschichten von der großen Freiheit und einer Reise nach Patagonien, wird aber von "seinem Freund" immer wieder manipuliert und benutzt.


Erinnerungen an Fellinis "La Strada" wecken diese Personenkonstellation ebenso wie das Schausteller-Milieu und recht vorhersehbar entwickelt sich die Handlung mit dem Wechselbad von Momenten der Nähe und heftigen Konflikten. Stark machen diesen Film aber neben den beiden intensiv spielenden Hauptdarstellern Andrea Fuorto und Augusto Mario Russi, das nicht zuletzt durch den Dreh auf 16mm-Film atmosphärisch dicht und authentisch eingefangene süditalienische Provinz und das Milieu der am Rand der Gesellschaft lebenden Schausteller:innen.


Stimmig spielt Bozzelli dabei auch immer wieder mit dem Spannungsfeld von Freiheit und Gefängnis einerseits mit einer Ratte, die Yuri bekommt, aber noch stärker mit dem Wechsel zwischen Nahaufnahmen und weiten Landschaftstotalen.


Noch problematischer als die Beziehung zwischen Yuri und Agostino ist freilich die Beziehung, die die schwer übergewichtige Krankenpflegerin Maria (Isold Halldórudóttir) in Claudia Rorarius´ "Touched" anstrebt. Mit größter Detailtreue schildert die im Spiel- und Dokumentarfilm erfahrene 51-jährige Regisseurin die Einschulung Marias in die Pflege des querschnittgelähmten Alex (Stavros Zafeiris). Auch dass sie dabei dem Patienten alle vier Stunden einen Katheter legen muss, damit er Wasser lassen kann, wird explizit geschildert.


Nah dran ist die Regisseurin durchs enge 4:3-Format auch immer an ihren Protagonist:innen, doch nie kommt das Gefühl von Voyeurismus auf, sondern ihr Blick ist vielmehr von großer Zärtlichkeit und Empathie bestimmt. Weitgehend auf Maria und Alex sowie auf das Pflegeheim als Schauplatz beschränkt, erzählt Rorarius, wie Maria bald die Grenzen überschreitet und sich dem im Rollstuhl sitzenden Alex körperlich nähert.


Der junge Mann wiederum scheint dies einerseits zu genießen, fordert aber andererseits Maria auf, ihn mit Tabletten zu töten. Als diese das verweigert, beschimpft Alex Maria immer wieder heftig wegen ihrer Körperfülle, diese wiederum reagiert eifersüchtig auf Besuche von Alex´ Freundin.


So minimalistisch "Touched" in der Handlung ist, so offen und ernst ist er im Umgang mit dem ebenso ungewöhnlichen wie heiklen Thema. Spekulativ wird dieser kompromisslose Film dabei aber nie, sondern packt und berührt durch die trotz drastischer Szene, insgesamt ebenso leise wie konzentrierte Inszenierung und die mit großem Einsatz spielende 26-jährigen Isländerin Isold Halldórudóttir berührt. Mag dieses Drama mit 135 Minuten auch etwas zu lang geraten sein, so darf es doch zu den Entdeckungen dieses Festivals zählen.



Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"




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