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AutorenbildWalter Gasperi

76. Locarno Film Festival: Wilder Bukarest-Trip und Lissabon-Musical

Aktualisiert: 12. Aug. 2023


Der Rumäne Radu Jude legt mit "Do Not Expect Too Much of the End of the World" einen ziemlich überladenen und grimmigen Film über Realität und Inszenierung, Wahrheit und Manipulation vor, während der schweizerisch-portugiesische Filmemacher Basil Da Cunha in "Manga d´Terra" ein weiteres Mal ins kreolische Lissaboner Viertel Reboleira eintaucht.


Nach seinem Berlinale-Sieger "Bad Luck Banging or Loony Porn" setzt sich Radu Jude auch in seinem neuen Film "Do Not Expect Too Much of the End of the World" mit rumänischer Realität, aber auch mit dem Verhältnis zwischen seinem Heimatland und westlichen Konzernen, vor allem aber mit dem Verhältnis von Realität und filmischer Inszenierung auseinander.


Auf einen rund zweistündigen ersten Abschnitt, der den Titel "Angela – Diskussion mit einem rumänischen Film von 1981" trägt, folgt dabei ein rund 30-minütiger zweiter Teil mit dem Titel "Ovidiu – Rohmaterial".


Leitlinie des ersten Teils ist die Recherche der jungen, überlasteten und unterbezahlten Filmemacherin Angela für ein von einem österreichischen Unternehmen in Auftrag gegebenes Video zum Thema "Sicherheit am Arbeitsplatz". Die Opfer von Arbeitsunfällen, die Angela dabei in Bukarest ausfindig macht, geben freilich weniger ihrem Fehlverhalten als vielmehr mangelnden Sicherheitsvorkehrungen des Konzerns und viel zu langen Arbeitszeiten die Schuld an den Unfällen.


Kontrastiert werden diese in grobkörnigem Schwarzweiß gefilmten Szenen von einem – realen oder von Jude nachgestellten? – rumänischen Farbfilm aus dem Jahr 1981, in dem eine Taxifahrerin durch das kommunistische Bukarest fährt. Den tristen Grautönen und mit aggressiver Musik unterlegten Gegenwartsszenen steht dabei nicht nur eine in warme Brauntöne und mit süßlicher Musik unterlegte Vergangenheit im Film-im-Film gegenüber, sondern im Gegenschnitt soll wohl auch die Veränderung des Stadtbilds sichtbar werden, wenn beispielsweise das Stadtviertel Uranus dem Palast Ceausescus weichen musste.


Als dritte Ebene kommen aber auch noch Selfie-Videos von Angela dazu, in denen sie, als männliche, glatzköpfige Kunstfigur verkleidet, in vulgärer Sprache immer wieder die – auch rassistische – Stimmung des rumänischen Volkes zum Ausdruck zu bringen scheint.


Zu diesen drei Ebenen kommen aber auch Formatwechsel zwischen 4:3 und Breitwand, sowie eine Zoom-Konferenz mit den westlichen Produzenten, die bei dem "Sicherheitsfilm" weniger an Realität interessiert sind, sondern Emotionen mittels Großaufnahmen wollen, oder eine Begegnung mit dem deutschen Trashfilm-Regisseur Uwe Boll.


Auf sprachlicher Ebene sind wiederum eine Fülle an Zitaten von Alexander Kluge bis Karl Marx eingefügt, wird auf den Ukraine-Krieg und den Regierungsantritt von König Charles Bezug genommen, aber auch an die Nazi-Vergangenheit Österreichs, Kurt Waldheims Präsidentschaft und Thomas Bernhards "Heldenplatz" erinnert.


Im Gegensatz zu diesem ersten Teil, der mit seiner Überfülle die Zuschauer:innen förmlich erschlägt, ist der zweite Teil, der aus einer einzigen statischen, rund 30-minütigen Halbtotalen der Familie des seit seinem Arbeitsunfall auf einen Rollstuhl angewiesenen Ovidiu besteht, deutlich leichter zugänglich. Frontal in die Kamera soll hier Ovidiu von seinem Unfall erzählen, doch immer wieder wird sein Text korrigiert, denn jede Schuld des Konzerns soll getilgt werden. So bleiben schließlich nur grüne Schrifttafeln übrig, die in der Postproduktion von den Filmemachern oder auch vom Konzern nach Belieben mit Text gefüllt werden können.


Auch hier thematisiert Jude freilich ausgehend von diesem konkreten Ereignis ganz allgemein die Frage von Realität und Inszenierung im Film, von Wirklichkeit und Manipulation, wenn er daran erinnert, dass schon der vermeintliche Dokumentarfilm der Brüder Lumière "Arbeiter verlassen die Fabrik" das Produkt einer Inszenierung war.


Zweifellos viele Gedankenanstöße bietet Jude mit diesem grimmigen Rundumschlag, stellt aber auch extreme Ansprüche ans Publikum und fordert nicht nur, sondern überfordert auch zumindest beim ersten Sehen mit seiner geballten Text- und Bilderflut.


Dies kann man vom einzigen Schweizer Beitrag im Wettbewerb "Terra d´Manga" nicht behaupten. Der schweizerisch-portugiesische Filmemacher Basil Da Cunha ist dafür wiederum ins kreolische Lissaboner Viertel Reboleira zurückgekehrt, wo er selbst auch zeitweise lebte und wo auch schon seine ersten beiden Spielfilme "Até ver o luz" (2013) und "O Fim do Mundo" (2019) entstanden.


Im Mittelpunkt von "Terra d´Manga" steht die junge Rosinha, die von den Kap Verden nach Lissabon gekommen ist, um ihren beiden in der Heimat gebliebenen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. In der Fremde jobbt sie nun zunächst als Kellnerin, wird aber von ihrer Chefin rausgeworfen, weil sie zu wenig arbeite. Zwar findet sie bald eine neue Bleibe, fliegt aber auch dort wieder raus und träumt zunehmend intensiver von einer Karriere als Sängerin.


Ausdrucksstark sind die Gesichter der Laienschauspieler:innen und stimmig wird das Milieu eingefangen, aber die Geschichte scheint im Grunde nur Füllmittel zwischen den fünfs Songs zu sein, in denen Rosinhas Sehnsüchte und ihr Heimweh zum Ausdruck kommen.


Kraft entwickeln diese jeweils weitgehend in einer langen Einstellung gefilmten und teils ganz in Blau, Rot oder Grün getauchten Gesangsnummern und auch als Hommage an die vitalen und sich selbst in diesem Armenviertel behauptenden Frauen funktioniert "Terra d´Manga" zwar, aber davon abgesehen bleibt dieser Film doch sehr dürftig: Skeptisch könnte da freilich schon der Titel machen, der sich auf den letzten Song bezieht und in dem sich Rosinha immer wieder als "eine in der Heimat geborene Mango" bezeichnet.



Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"

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