top of page
  • AutorenbildWalter Gasperi

77. Locarno Film Festival: Familienporträts

Aktualisiert: 17. Aug.

Für einen ersten Höhepunkt im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden sorgen die Zürcher-Zwillinge, die mit "Der Spatz im Kamin" ihre Tier-Trilogie abschließen. An Überkonstruktion leidet dagegen "Seses – Drowing Dry" des Litauers Laurynas Bareiša.


Ganz leise erzählten die Zwillinge Ramon und Silvan Zürcher in ihren ersten beiden Spielfilmen "Das merkwürdige Kätzchen" und "Das Mädchen und die Spinne" mit Blicken, Gesten und Dialogen von Sehnsucht und Begehren, aber auch von Traurigkeit und mehr oder weniger unterschwelligen Aggressionen.


Deutlich aggressiver ist der Ton nun in "Der Spatz im Kamin", bei dem auch die Rollen zwischen Ramon und Silvan klarer aufgeteilt sind: Während Ramon als Regisseur genannt wird, zeichnet Silvan für die Produktion verantwortlich.


Idyllisch sind die ersten sommerlichen Bilder eines an See, Wiese und Wald gelegenen Hauses und durchgängig wird auf der Bildebene diese Stimmung den Film bestimmen. Doch bald werden Risse innerhalb der Familie, die hier zusammenkommt, um den Geburtstag von Markus zu feiern, sichtbar. Wie der Spatz, der sich am Beginn in den Kamin verirrt, wirkt vor allem Karen (Maren Eggert) in ihrem Leben gefangen.


Heftig prallt sie mit ihrer Teenagertochter Johanna zusammen, auch mit dem etwa zehnjährigen Sohn Leon gibt es Differenzen. Ihren Mann Markus lässt sie mehr oder weniger links liegen, hat er doch eine Affäre mit der Nachbarin Liv und das Verhältnis zu ihrer Schwester scheint durch die Vergangenheit belastet.


Während der Spatz bald aus dem Kamin befreit wird und ins Freie fliegt, muss Karen diesen Weg erst noch finden. Sie ist die Protagonistin von "Der Spatz im Kamin", doch fließend wechselt der Film zwischen den Familienmitgliedern, bietet dem großartigen Ensemble Raum, um die vielfältigen Spannungen und Unstimmigkeiten differenziert sichtbar zu machen.


Da provoziert die pubertierende Johanna ihren Onkel mit sexuell eindeutigen Bemerkungen, Leon lässt seine Wut an einer Katze aus, aber auch eine Henne muss brutal dran glauben, als ihr der Kopf abgeschlagen wird und sie doch noch durch den Garten fliegt. - Reich bevölkert ist dieses Familienporträt aber auch an weiteren Tieren von Hund über Raupe, Schmetterlinge und Ratte bis zu Glühwürmchen.


Nur über rund 24 Stunden spannt sich die Handlung und beschränkt sich weitgehend auf das Landhaus, doch den Zürchers reicht das völlig aus, um ein dichtes Familienporträt zu zeichnen, bei dem auch eine traumatische Familiengeschichte ans Tageslicht gefördert wird.


Das ist nicht mehr so zart und fein wie in den ersten beiden Filmen, auch mit zwei finalen Traumvorstellungen von Karen werden kräftigere Töne angeschlagen, aber durch die perfekte Besetzung aller Rollen, die punktgenauen Dialoge und die präzise Regie, die alle Figuren Profil entwickeln lässt, ist den Schweizer Zwillingen mit "Der Spatz im Raum" ein starker Abschluss ihrer Tier-Trilogie gelungen.


Ganz auf zwei Familien – und dabei vor allem auf die Schwestern Ernesta und Juste – fokussiert der Litauer Laurynas Bareiša in "Seses – Drowning Dry". Macho-Männlichkeit wird mit dem Martial-Arts-Kämpfer Lukas und seinem mit einem mächtigen SUV protzenden Schwager vorgeführt, während die Frauen im Haus am See die Schränke einräumen und später auf der Terrasse zu einem Lied tanzen.


Lange lässt sich Bareiša Zeit für die recht ereignislose Schilderung dieses Aufenthalts im Landhaus. Abrupt bricht die Handlung aber ab, als die Tochter von Juste beim Baden nicht mehr auftaucht, und setzt erst deutlich später wieder ein.


Aus Andeutungen müssen die Zuschauer:innen selbst erschließen, was beim Baden passiert ist, ehe der Film nochmals zum Unfall zurückkehrt, dann aber wieder abbricht und einen zweiten Zeitsprung lanciert.


Was geradlinig erzählt, wenig aufregend und überraschend wäre, erzeugt durch diese Erzähltechnik Spannung. Andererseits verärgert aber auch, dass die einzige Funktion und das einzige Ziel dieser Zeitsprünge ist, diese Spannung zu erzeugen, sie aber inhaltlich keine Funktion haben. Auch die Themen, die dabei gegen Ende in den Mittelpunkt rücken, sind einerseits nicht gerade neu, andererseits werden sie in der Kürze auch nicht wirklich ausgelotet. – So bleibt ein solides Drama, das mit seiner Erzähltechnik mehr auf Spannungsaufbau als auf inhaltliche Tiefe abzielt.



Weitere Beiträge zum 77. Locarno Film Festival:

Comentarios


bottom of page