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AutorenbildWalter Gasperi

77. Locarno Film Festival: Gegensätzliche Welten

Aktualisiert: 17. Aug.

Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden begleitet Virgil Vernier in "Cent Mille Milliards" einen Escort-Boy durch die Luxuswelt von Monaco, Bing Wang blickt dagegen in seinem Dokumentarfilm "Youth: Hard Times" auf die Arbeitsbedingungen in der chinesischen Textilindustrie.


Immer wieder rückt Virgil Vernier in "Cent Mille Milliards" die in der Nacht leuchtenden Hotels von Monaco ins Bild und manchmal auch mit Handybildern die Glitzerwelt von Dubai. Vergoldet sind auch die Wasserhähne im Appartement, in dem der Escort-Boy Afine über Weihnachten sich mit einer serbischen Babysitterin um die 12-jährige Julia kümmern soll, für die die Eltern offensichtlich keine Zeit haben.


Gemeinsam öffnen sie das letzte Türchen des Adventkalenders, stehen vor dem Weihnachtsbaum, backen einen Kuchen und feiern an Silvester dann doch lieber zu dritt im Appartement als eine Party zu besuchen. Ist Afine bei diesem Auftrag nur Gesellschafter, so steht er einer älteren Frau selbstverständlich auch für sexuelle Dienste zur Verfügung.


Stimmungsvoll erzählt Vernier so in dieser französischen Variante von "American Gigolo – Ein Mann für gewisse Stunden" von diesem jungen Mann ohne richtige Perspektive und einer Luxuswelt, deren Bewohner:innen aber auch verloren wirken in ihrem emotionslosen, ganz vom Materialismus bestimmten Leben.


Man spürt die Faszination und Sehnsucht, die Reichtum und Prunk bei dem jungen Mann auslösen, doch Vernier zeigt eben auch, dass letztlich dieser Reichtum oder die titelgebenden "Cent Mille Milliards" nicht glücklich machen und der Sinn des Lebens nicht in der Expansion des Reichtums wie bei Julias Eltern, die im Meer eine Insel als Zufluchtsort bauen lassen, sondern in etwas Immateriellem liegen muss.


Fern ist jeder Luxus in Bing Wangs 227-minütigem Dokumentarfilm "Youth: Hard Times". Von 2014 bis 2019 hat der Chinese für diesen zweiten Teil einer mit "Youth: Spring" (2023) begonnenen und mit "Youth: Homecoming" (2024) abgeschlossenen Trilogie in den Textilwerkstätten – von Fabriken kann man nicht sprechen – der Stadt Zhili gedreht. 30.000, vorwiegend junge Wanderarbeiter arbeiten hier in zahlreichen abbruchreifen und verdreckten Häusern, aber auch die Wohnbedingungen sind nicht besser.


Ohne Kommentar und Interviews folgt Wang seinen Protagonist:innen in diese bedrückende Welt. Teils mit dynamischer Kamera, teils in langen statischen Einstellungen fängt er Arbeits- und Wohnbedingungen ein, dokumentiert die Diskussionen um die Entlohnung, die pro Kleidungsstück erfolgt, zeigt wie Arbeiter:innen um den Urlaub um Neujahr kämpfen müssen oder wie ihnen, nachdem der Boss mit dem Geld verschwunden ist, einzig die Möglichkeit bleibt, die Maschinen möglichst teuer zu verkaufen.


Sichtbar wird in diesen Diskussionen auch immer wieder, wie fehlende Geschlossenheit der Arbeiterschaft die Durchsetzungen ihrer Forderungen erschwert, gleichzeitig ermüdet "Youth: Hard Times" in seiner Redundanz, seiner fehlenden Pointiertheit und mangelnden Struktur aber auch.


Scheinbar beliebig reiht Wang die Blicke in zahlreiche Textil-Werkstätten aneinander, führt mit Inserts in jeder Werkstatt immer wieder neue Arbeiter:innen ein und zeigt immer wieder sich ähnelnde Lohnverhandlungen und Arbeitskonflikte.


Eine Fokussierung auf wenige Einzelschicksale und eine oder wenige Werkstätten, die dafür genau durchleuchtet werden und klares Profil gewinnen, wäre hier wohl zielführender gewesen. Dennoch darf man auf den abschließenden Teil "Youth: Homecoming", der mit der Rückkehr zweier Wanderarbeiter:innen zum Neujahrsfest in ihren Heimatort am Ende von "Youth: Hard Times" offensichtlich schon vorbereitet wird, gespannt sein.



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