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AutorenbildWalter Gasperi

77. Locarno Film Festival: Schwächelnde Piazza und klassisches Hollywood-Kino

Aktualisiert: 17. Aug.

Während im Programm auf der Piazza Grande echte Highlights bislang fehlen, bietet die Retrospektive zum Hollywood-Studio Columbia Pictures nicht nur bekannte Meisterwerke, sondern auch wenig bekannte Perlen.


Wirklich mitreißen und begeistern kann das Programm der Open-Air-Vorführungen auf der rund 8000 Besucher:innen fassenden Piazza Grande bislang kaum. Nach der enttäuschenden Eröffnung mit dem Historienfilm "Le déluge" präsentierte Klaudia Reynicke zwar mit "Reinas" eine stimmige und gefühlvolle, autobiographisch inspirierte Coming-of-Age-Geschichte über ihre Jugend im von schwerer wirtschaftlicher Krise und Anschlägen der Terrororganisation Leuchtender Pfad erschütterten Peru der frühen 1990er Jahre, doch Simon Jaquements Science-Fiction-Film "Electric Child" löste dann doch wieder vielfach Kopfschütteln aus.


Visuell ist diese Produktion zwar durchaus stark, doch die Story um einen Computertechniker, der mittels einer selbstlernenden KI sein mit einem Gendefekt geborenes Baby retten will, wirkt reichlich absurd und entwickelt nie wirklich Spannung.


Näher ging da schon César Diáz´ "Mexico 86", den der belgisch-guatemaltekische Filmemacher seiner Mutter gewidmet hat. Von seiner eigenen Geschichte inspiriert, erzählt Diáz darin großteils indirekt vom Bürgerkrieg in den 1970er und 1980er Jahren.


Heftig ist der Einstieg, bei dem die junge Guerrillera Maria (Bérénice Béjo) von ihrer Wohnung aus sieht, wie ihr Mann auf der Straße von Militärs erschossen wird. Nur die Flucht ins benachbarte Mexiko bleibt ihr, ihr Baby Marco muss sie aber bei ihrer Mutter zurücklassen.


Schwarzweißes Archivmaterial bietet einen kurzen Eindruck von der Brutalität dieses Bürgerkriegs, ehe Diáz mit einem Schnitt von 1976 aus zehn Jahre überspringt. Immer noch lebt Maria mit ihrem neuen Partner Miguel in Mexiko im Untergrund, arbeitet unter falschem Namen bei einer Zeitung, muss aber stets Entdeckung fürchten. Wie real diese Gefahr ist, wird spürbar, wenn ein Kampfgefährte unmittelbar neben ihr auf der Straße von Häschern der guatemaltekischen Diktatur niedergestochen wird.


Große Spannung baut Diáz auf, wenn er Maria im Bus und auf den Straßen immer wieder um sich blicken lässt, in Passanten Verfolger vermutet und das Paar jederzeit bereit sein muss, zu fliehen. Verschärft wird die Situation, als Marias Mutter den inzwischen zehnjährigen Marco nach Mexico bringt, da sie sich aufgrund einer schweren Krankheit nicht mehr um den Jungen kümmern kann. Groß ist zwar die Wiedersehensfreude zwischen Mutter und Sohn, doch auch die Gefahr, dass der Junge durch ein falsches Wort die Familie verrät, wächst.


An Christian Petzolds "Die innere Sicherheit" erinnert diese Schilderung eines Lebens im Untergrund teilweise und geschickt verbindet Diáz einen an die Filme Costa-Gavras erinnernden Thriller mit einer bewegenden Mutter-Sohn-Geschichte, bewegt sich insgesamt aber auch in sehr konventionellen Bahnen.


Echte Entdeckungen kann man in der Retrospektive machen, die sich dem Hollywood-Studio Columbia Pictures widmet, das heuer seinen 100. Geburtstags feiert. Nahezu ausverkauft ist bei diesen Vorstellungen das 450 Zuschauer:innen fassende GranRex immer wieder.


Weitgehend unbekannt ist beispielsweise der kleine Thriller "The Killer That Stalked New York" (1950), gewinnt aber vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie von 2020 überraschende Aktualität. Halbdokumentarischer Gestus entwickelt der Film durch einen Off-Erzähler, der in die Handlung einführt ebenso wie durch den Dreh an Originalschauplätzen in New York.


Im Mittelpunkt steht eine Blondine, die von einem Zollbeamten wegen Diamantenschmuggel verfolgt wird, aber von ihrer Reise nach Kuba auch die Pocken einschleppt. Nachdem erste Fälle der Krankheit auftauchen, beginnen auch Gesundheitsbehörde und Polizei fieberhaft nach der Frau zu suchen, gleichzeitig wird eine große Impfkampagne gestartet.  


Geschickt verknüpft Earl McEvoy, der insgesamt nur drei Filme drehte und 1959 im Alter von nur 46 Jahren starb, die Suche nach diesem Patient Zero, mit dem Kampf gegen die sich anbahnende Pandemie und erzeugt durch knapp skizzierte Einzelschicksale von Patient:innen Emotionalität.


Im Gegensatz zu diesem kleinen Schwarzweißfilm erstrahlt Phil Karlsons "Gunman´s Walk" (1958) nach 4K-Restaurierung in kräftigen Farben und Cinemascope. Von der Weite der Prärie führt dieser Western in der zweiten Hälfte in eine Kleinstadt und behandelt mit einem mächtigen Rancher und seinen zwei ungleichen Söhnen ebenso wie mit der Ablöse des Rechts des Stärkeren durch das Gesetz klassische Motive des Genres, bringt aber auch die Thematik des Rassismus gegenüber den Indigenen stark ins Spiel.


Wenn Karlson dabei dem Rassismus des patriarchalen Rancher-Vaters und seines älteren, zu Gewalt neigenden Sohns, einen feinfühligen jüngeren Sohn, der sich in eine Indigene verliebt, gegenüberstellt, kann man darin auch einen Reflex auf die Bürgerrechtsbewegung der 1950er Jahre und ein Plädoyer für ein gemeinsames Miteinander sehen. – Doch auch ohne diesen Subtext funktioniert "Gunman´s Walk" als dicht inszeniertes und hervorragend gespieltes klassisches Hollywood-Kino.



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