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  • AutorenbildWalter Gasperi

77. Locarno Film Festival: Zuschauen oder eingreifen

Aktualisiert: 17. Aug.

Kurdwin Ayub schickt in "Mond" eine österreichische Ex-Mixed-Martial-Arts-Kämpferin nach Jordanien, um dort drei Schwestern einer Oberschicht-Familie zu trainieren. Pia Marais entführt dagegen in "Transamazonia" in den brasilianischen Regenwald, wo Indigene gegen die Verdrängung durch die Holzindustrie kämpfen.


Mit der Karriere als Mixed Martial-Arts-Kämpferin ist es für die von der Choreografin und Performance-Künstlerin Florentina Holzinger gespielte Sara schon in der ersten Szene mit einer Niederlage vorbei. Als Trainerin versucht sie einen Neustart, doch mit den zimperlichen Wiener Teenagern kann sie wenig anfangen und nimmt so bald die Einladung eines Jordaniers an, im Nahen Osten dessen drei Schwestern zu trainieren.


So knapp und prägnant dieser Einstieg inszeniert ist, so stringent und geradlinig entwickelt die kurdisch-österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub die Handlung ihres ganzen Films. Zurückzuführen ist das teilweise vielleicht auch auf die dramaturgische Beratung durch Veronika Franz und Severin Fiala, deren "Des Teufels Bad" ja ebenfalls diese Konsequenz auszeichnete.


Ganz aus der Perspektive ihrer Protagonistin erzählt Ayub. In jeder Szene ist sie präsent und auf ihrem Wissensstand sind die Zuschauer:innen stets. So taucht man auch mit ihr in die Verhältnisse in Jordanien ein, erfährt hautnah ihr Gefühl der Fremdheit, wenn sie allein an der Hotelbar sitzt oder von einem Chauffeur wortlos zum palastartigen Haus der Familie, deren Töchter sie unterrichten soll, gefahren wird.


Während die Eltern scheinbar immer abwesend sind, regelt der Sohn des Hauses alles, gibt Sara auch gleich vor, dass nichts, was sie im Haus sieht oder hört nach außen dringen darf. Wenig Interesse zeigen die drei jungen Frauen dagegen am Kampftraining, chillen lieber, kümmern sich um ihr Make-up oder widmen sich Soap-Operas im TV.


Ein sukzessive dichteres Bild von einem Leben in einem Goldenen Käfig wird so gezeichnet, doch langsam entwickelt sich auch eine Beziehung zwischen Sara und den drei Schwestern und von der Zuschauerin entwickelt sie sich zur Akteurin, als sie um Hilfe gebeten wird.


Nachdem Ayub in ihrem Langfilmdebüt "Sonne" mit viel Handykamera-Bildern und eingeschnittenen Chat-Nachrichten von der Selbstermächtigung einer jungen Wiener Muslima erzählte, blickt sie im zweiten Teil einer geplanten Trilogie, die mit "Sterne" abgeschlossen werden soll, auf die Situation von jungen Frauen in der muslimischen Welt.


Klassischer ist die Erzählweise, entwickelt aber durch die konsequente und prägnante Handlungsentwicklung große Dichte und Spannung, bietet andererseits aber auch kaum neue und tiefgreifendere Einsichten.


In den brasilianischen Amazonas-Dschungel entführt dagegen Pia Marais in "Transamazonia". Nach einem Flugzeugabsturz wird hier die sechsjährige blonde Rebecca (Helena Zengel) von einem Indigenen gerettet und von einem Missionar als seine Tochter identifiziert und aufgezogen.


Neun Jahre später hat der Missionar Rebecca als Heilerin instrumentalisiert, die bei seinen spirituellen Feiern, bei denen er mit Inbrunst die Kraft des Glaubens und Gottes beschwört, Kranke von ihren physischen Beschwerden befreien soll. Mit ihren Erfolgen vergrößert er seine Anhängerschaft, doch in ein Dilemma gerät er, als ein Sägewerksbesitzer, dessen Holzfäller, unterschützt von bewaffneten Schutztruppen, ins Reservat der Indigenen vordringen, ihn um Heilung seiner im Koma liegenden Frau bittet.


Sympathisierte der Missionar bislang zwar mit den Indigenen, bezog aber nicht klar Position, so ergreift er jetzt Partei für das bedrängte Volk und handelt einen Deal mit dem Sägewerksbesitzer aus. Aber auch seine Tochter ergreift immer entschiedener Partei für den Schutz der Indigenen und des Regenwalds.


So erzählt Marais einerseits die private Geschichte eines Vaters und seiner Tochter, deren Beziehung eine neu ankommende Europäerin hinterfragen wird, rückt aber gleichzeitig auch den hemmungslosen Raubbau im Amazonas-Dschungel ins Bild. Wie die in Südafrika geborene deutsche Regisseurin dabei in Bildern des noch intakten Dschungels dessen Schönheit feiert, so macht sie im Fallen der Baumriesen oder in einer braunen Piste durch ein schon abgeholztes Gebiet auch das Ausmaß der Zerstörung sichtbar.


Schlüssig ist das zwar erzählt, aber doch zu wenig werden letztlich die beiden Erzählstränge verknüpft und mit seiner langsamen Erzählweise entwickelt "Transamazonia" auch zu wenig Durchschlagskraft, regt zwar das Denken an, packt aber nur bedingt und lässt kaum Emotionen aufkommen.



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