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  • AutorenbildWalter Gasperi

77. Locarno Film Festival: Zwischen Traum und Wirklichkeit

Aktualisiert: 17. Aug.

Der Wettbewerb um den Goldenen Leoparden neigt sich dem Ende zu: Während in Ala Eddine Slims "Agora" in einer tunesischen Küstenstadt vor Jahren verschwundene Menschen als Halbtote oder Tote zurückkehren, irrt in Gürcan Kelteks "New Dawn Fades – Yeni safak solarken" der Protagonist durch ein düsteres Istanbul.


Eine traumartige Stimmung erzeugt der Tunesier Ala Eddine Slim, dem die Viennale 2019 eine Filmreihe gewidmet hat, wenn er einen blauen Hund und eine schwarze Krähe die Geschichte einer nahenden Katastrophe erzählen lässt. Immer wieder kommentieren die beiden Tiere das Geschehen um die Rückkehr lange Verschwundener in einer tunesischen Küstenstadt.


An den Zombiefilm knüpft Slim an, wenn ein blutender Untoter durch die Straßen wankt, eine ertrunkene Frau wieder aus dem Meer steigt und ein vor Jahren im Steinbruch Verschwundener plötzlich wieder auftaucht.


Am klassischen Thriller orientiert sich der Tunesier dagegen, wenn der lokale Polizeichef und der Arzt die Sache geheim halten wollen, bei der Bevölkerung aber Unmut aufkommt, als im Meer nur noch tote Fische schwimmen und die Ernte verfault. Licht in die Sache soll ein Ermittler aus der Hauptstadt bringen, der schließlich einen Deal mit dem Imam aushandelt, durch den die Ruhe wieder hergestellt werden soll.


Einen besonderen Touch verleihen "Agora" nicht nur der blaue Hund und die Krähe, sondern auch die einfallsreiche und aufregende visuelle Gestaltung. Spannend treibt der Tunesier so die Handlung voran, kritisiert einerseits ganz konkret die Verflechtung von weltlichen Behörden und Religion und andererseits über die beiden Tiere und die Rückkehr von Toten metaphorisch die Vertuschung vergangener Ereignisse, lässt aber auch Einiges im Vagen und Dunklen.


Der Türke Gürcan Keltek versetzt dagegen in "New Dawn Fades – Yeni safak solarken" in die Welt des etwa 30-jährigen Akin. Lange gleitet die Kamera von Peter Zeitlinger bei dieser multinational-europäischen Produktion mit dem Blick des Protagonisten in einer Moschee über Ornamente und Bilder oder auf einem Friedhof über Grabsteine.


Mit seiner Mutter und jüngeren Schwester lebt Akin in einem geräumigen Haus, dessen Räume stets in Halbdunkel getaucht sind. Hier versucht die Mutter ihren Sohn, der offensichtlich einen längeren Klinik-Aufenthalt hinter sich hat, mit Blutegeln und Schröpfgläsern zu therapieren, doch Akin widersetzt sich. Verstört reagiert die Mutter auf seinen Gedanken, dass der Vater ein serbischer Schlächter war, den er finden möchte. Doch sie kann ihn von dieser fixen Idee nicht abbringen.


Doch diese Vatersuche verliert sich ebenso im Nichts wie der nächtliche Besuch eines früheren Freundes, mit dem Akin ein nicht genauer erklärtes Erlebnis verbindet, oder das Treffen mit einem Prediger und einem Arzt, der ihn an die regelmäßige Einnahme seiner Medikamente erinnert.


Ruhe scheint er bei seiner Ex-Freundin zu finden, die mit ihm Entspannungsübungen macht, doch dann irrt er wieder durch die Straßen des hektischen Istanbul, in dem ein Plakat an ein verschwundenes Mädchen erinnert.


Viele Fährten legt Keltek so aus, erzeugt mit starken Bildern und intensivem Sounddesign eine beunruhigende Stimmung. Spannung baut er auf, indem er lange rätseln lässt, ob es hier um einen politischen Kommentar zur Lage in der Türkei oder um religiösen Fanatismus geht, doch die finale Auflösung ist dann so simpel, dass "New Dawn Fades – Yeni safak solarken" förmlich implodiert und wie ein Kartenhaus zusammenbricht.



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