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  • AutorenbildWalter Gasperi

Ivo

Die Kraft des genauen Blicks auf den Alltag und eine famose Hauptdarstellerin: Minna Wündrich brilliert in Eva Trobischs unspektakulärem, aber dichtem Drama über den Alltag einer ambulanten Palliativpflegerin.


Die etwa 40-jährige Ivo (Minna Wündrich) ist ambulante Palliativpflegerin. Freizeit und soziale Beziehungen außerhalb ihres Berufs scheint sie nicht zu kennen. Ständig sieht man sie in ihrem alten Skoda durchs Ruhrgebiet von einer Patient:in zur nächsten fahren. In jeder Szene ist sie präsent. Ganz aus ihrer Perspektive erzählt Eva Trobisch, der schon vor sechs Jahren mit "Alles wird gut" (2018) ein beeindruckendes Debüt über den Umgang einer Frau mit einer Vergewaltigung gelang.


Nichts Spektakuläres passiert, keine Hektik kommt auf – und doch spürt man den Stress, unter dem diese Frau steht, wenn sie während ihren Fahrten, die sie in ganz unterschiedliche Milieus führen, per Freisprechanlage Termine koordinieren muss oder einen Snack zu sich nimmt. Mit lauter Musik scheint sie dabei die Belastung zu verdrängen. Kurz sind die Ruhepausen, in denen sie auf dem Balkon einer Patientin steht und eine Zigarette rauchend die Menschen auf der Straße beobachtet oder auf Bäume und ihre vom Wind bewegten Blätter schaut.


Belastend ist vor allem die Pflege der an ALS erkrankten Solveigh (Pia Hierzegger). Die berufliche Distanz fällt hier weg, denn Ivo ist mit dieser Patientin schon lange befreundet. Verschärft wird die Situation dadurch, dass Ivo mit Solveighs Mann Franz (Lukas Turtur) eine Affäre hat. Gewissensbisse stellen sich ein und dann bittet Solveigh sie auch noch, ihr beim Suizid zu helfen.


Dann gibt es aber auch noch den an Krebs im Endstadium leidenden Mann, der ständig seine Frau schikaniert, oder ein homosexuelles älteres Paar, bei dem der eine Mann Cortison nehmen muss. So professionell und emotionslos Ivo ihre Arbeit ausführt, so sachlich beobachtend ist auch der Blick von Eva Trobisch und ihrem Kameramann Adrian Campean. Auch wenn diese Menschen kurz vor dem Tod stehen, wird hier nicht auf die Tränendrüse gedrückt.


Aber auch die Bürokratie wird nicht ausgespart. Emotionslos werden im Sitzungsraum vom Chef, der vom realen Palliativarzt Johann Campean gespielt wird, der mit seinem Fachwissen die Regisseurin bei der Entwicklung von "Ivo" begleitete und beriet, den Palliativpfleger:innen die Namen der in der letzten Woche verstorbenen Patient:innen sowie die neu hinzugekommenen verlesen. Auch mit der Beschuldigung einer Familie, eine Patientin durch falsche Behandlung getötet zu haben, muss sich Ivo auseinandersetzen.


Ihre Tochter im Teenageralter sieht sie dagegen kaum. Längst hat diese gelernt, sich um sich selbst zu kümmern und führt ihr eigenes Leben. Mehr wie Wohnungspartner als wie Mutter und Tochter wirken sie, wenn Ivo nach Hause kommt.


An die Filme der Berliner Schule erinnert dieses intensive Drama im genauen und nüchternen Blick auf den Alltag, doch von der Spröde der Filme von Regisseur:innen wie Thomas Arslan, Angela Schanelec oder Christian Petzold ist hier nichts zu spüren. Fast dokumentarisch wirkt Trobischs zweiter Spielfilm in der genauen Schilderung, im Verzicht auf Off-Screen-Musik, aber auch in der sehr überlegten, aber ungeschönten Bildsprache Campeans. Nicht nur das harte weiße Licht erzeugt den Eindruck von Natürlichkeit, sondern auch der Umstand, dass die Figuren nicht immer voll ausgeleuchtet sind und teilweise im Halbdunkel stehen.


Hintergrundinformation zu den Figuren werden ausgespart, ganz auf den Alltag von Ivo im Hier und Jetzt fokussiert der Film. Klein gehalten ist so im Grunde die Geschichte, doch in der Konzentration auf die von Minna Wündrich großartig gespielte Protagonistin entwickelt "Ivo" große Kraft und spricht Fragen von brennender gesellschaftlicher Relevanz an.


Mit dem Fokus auf die Palliativpflegerin fragt Trobisch nämlich nach dem Spannungsfeld von Empathie und beruflicher Distanz. Wie weit kann und darf sich eine Pflegerin engagieren, ohne selbst an ihrer Aufgabe zu zerbrechen. Wie schwierig die Gratwanderung ist, zeigt sich, als Ivo Partei für die von ihrem todkranken Ehemann permanent schikanierte Gattin ergreift und ihn harsch auffordert, endlich still zu sein. Alles andere als dankbar ist nämlich die Gattin für diese Unterstützung und verweist Ivo des Hauses.


Ganz zentral wird aber auch die Frage nach Sterbehilfe aufgeworfen, wenn Ivo von ihrer Freundin Solveigh gebeten wird, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Bestehen Pflege und Fürsorge immer in der Verlängerung des Lebens oder kann sie auch in dessen Beendigung bestehen?


Wenn Trobisch danach auch akribisch schildert, wie der Totenschein ausgestellt, die Leiche abtransportiert und im Krematorium verbrannt wird, fragt der Film aber auch, was vom Menschen letztlich bleibt, und durch das ganze leise Drama zieht sich ganz zentral die Frage, wer sich denn eigentlich um die Pfleger:innen kümmert und sie unterstützt.


Die große Qualität von "Ivo" besteht auch darin, dass Trobisch sich aufs wertfreie Beobachten beschränkt. Die großen Fragen werden nicht aufgepfropft, sondern ergeben sich ganz selbstverständlich aus der Geschichte und der Verzicht auf Antworten zwingt die Zuschauer:innen, selbst Antworten auf die aufgeworfenen Problemfelder zu suchen.

 


Ivo Deutschland 2024 Regie: Eva Trobisch mit: Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur, Lilli Lacher, Pierre Siegenthaler, Leopold von Verschuer, Ulrich Marx, Birte Leest, Mechthild Lamprecht Länge: 104 min.


Läuft derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn.


Trailer zu "Ivo"



 

 

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