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AutorenbildWalter Gasperi

Gina

Aktualisiert: vor 12 Stunden

Einfühlsames und bewegendes Sozialdrama über das Leben einer Neunjährigen mit einer überforderten, alkoholsüchtigen und arbeitslosen Mutter: Kann man diesem Milieu entkommen oder werden Lebensverhältnisse schicksalhaft vererbt?


Die gebürtige Innsbruckerin Ulrike Kofler machte sich als Editorin von Spielfilmen wie "Die Vaterlosen" (2011), "Wilde Maus" (2017) oder "Der Boden unter den Füßen" (2019) einen Namen. Ihr Regie-Langspielfilmdebüt "Was wir wollten" (2020) wurde dann auf Anhieb vom Fachverband der Film- und Musikwirtschaft als österreichischer Kandidat für den Oscar 2021 für den besten internationalen Film eingereicht, ging aber leer aus.


Nach dieser Beziehungsdrama um unerfüllten Kinderwunsch legt Kofler mit "Gina" ein bedrückendes Sozialdrama vor. Ansatzlos wirft sie die Zuschauer:innen in die Lebenswelt der neunjährigen Gina (Emma Lotta Simmer). Mit ihren zwei kleineren Brüdern lebt das Mädchen mit ihrer alleinerziehenden, hochschwangeren Mutter in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Wien.


Detailliert fangen Kofler und ihr Kameramann Robert Oberrainer die desolaten Lebensverhältnisse ein. Nicht die Mutter Gitte (Marie-Luise Stockinger) kümmert sich hier um die Kinder, sondern Gina muss sich vielmehr um die Familie kümmern. Sie muss die Mutter am Morgen wecken, damit sie rechtzeitig in Kindergarten bzw. Schule kommen, damit sie nicht wiederum Besuch von der Beamtin vom Jugendamt (Ursula Strauss) bekommen.


Aufgeräumt wird im Haus nur, wenn die Beamtin vorbeischaut. Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärt Gina dann auch, dass die Mutter für sie und ihre Geschwister gut sorgt, verschiedenste Arten von Knödeln für sie kocht und sie immer genug zum Essen bekommen.


Die Realität schaut aber anders aus: Der Kühlschrank ist meistens leer. Die Reste der Pizza, die der neue Freund der Mutter, der auch der Vater des noch ungeborenen Kindes ist, mitbringt, werden für Zeiten großen Hungers im Puppenwagen versteckt.


Große Hoffnungen verbindet die Mutter mit diesem neuen Freund, doch dieser ist verheiratet und lässt sich nur selten blicken. – Rückfälle in den Alkoholismus bleiben angesichts dieser On/Off-Beziehung bei der stets rauchenden Gitte nicht aus.


Genau ist Koflers Blick für Details, durch den sie die beklemmenden Verhältnisse verdichtet: Meist tragen Gina und ihre Geschwister die gleichen Kleider, beim Schulausflug stolpert sie mit Flipflops durch den Wald, während ihre Mitschüler:innen Turn- oder Wanderschuhe tragen und in das Schwimmbad verschaffen sich die Kinder durch ein Loch im Zaun Zutritt.


Dennoch verurteilt Kofler die Mutter nicht. Sie beschränkt sich darauf zu zeigen und konzentriert sich weitgehend auf die Familie. Damit fehlt zwar die Einbettung in ein größeres Milieu, aber andererseits entwickelt "Gina" durch diese Konzentration Dichte und mit dem Blick auf Ginas Großmutter (Gerti Drassl) und ihren Onkel, der im Heim aufgewachsen ist, wird auch die Frage aufgeworfen, ob Menschen aus dem Milieu, in das sie geboren wurden, entkommen können.


Schon mit dem Vergleich der Hände und der Schicksalslinie von Mutter und Gina wird dieses Motiv eingeführt und zieht sich durch den Film. Diesem gegenüber steht mit dem Besuch des Schwimmbads Ginas wachsender Wunsch, selbst schwimmen zu lernen. Sie will eben nicht im Becken des Lebens untergehen, sondern gegen die Verhältnisse ankämpfen und aus der Abwärtsspirale, die sich von der Großmutter zur Mutter verstärkt hat, befreien.


Manchmal mag die kleine Gina hier zwar für ihr Alter zu altklug und zu reif agieren und reden, aber insgesamt gelingt Ulrike Kofler ein sehr stimmiges und bedrückendes Porträt dieser desolaten Familie. Die Authentizität und Kraft von Sean Bakers "The Florida Project", mit dem "Gina" die überforderte Mutter und die sich selbst überlassenen Kinder verbinden, oder von "Le gamin au velo" der Dardenne Brüder erreicht die Österreicherin zwar nicht. Hier hört man doch stärker das Drehbuch rascheln, doch der genaue Blick und die starken Schauspieler:innen, aus denen Emma Lotta Simmer, die gewohnt starke Gerti Drassl und Burgschauspielerin Marie-Luise Stockinger, die in der Rolle der Mutter großen Mut zum Hässlichen zeigt, herausragen, sorgen dennoch dafür, dass dieses Sozialdrama haften bleibt.

 

 

Gina

Österreich 2024 Regie: Ulrike Kofler mit: Emma Lotta Simmer, Marie-Luise Stockinger, Lion Tatzber, Nino Tatzber, Gerti Drassl, Ursula Strauss Länge: 100 min.


Läuft derzeit in den österreichischen Kinos, z.B. am Spielboden Dornbirn am Freitag, 10.1. um 19.30 Uhr.


Trailer zu "Gina"



 

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