Das Flair eines Film noir mischt der Argentinier Benjamin Naishtat mit surrealen Momenten, um intensiv die Stimmung vor dem Militärputsch im März 1976 zu evozieren. – Ein stilistisch brillanter und stark gespielter Thriller, der nicht nur durch seine elliptische Erzählweise Irritation zurücklässt.
Seit Luis Puenzos „La historia official“ (1985) haben immer wieder argentinische Regisseure die Schrecken der Militärdikatur General Videlas (1976 – 1983) thematisiert. 30.000 Menschen fielen dem Staatsterror zum Opfer. Regimegegner wurden von Todesschwadronen gejagt und in Geheimgefängnissen gefoltet und getötet.
Der 1986 geborene Benjamin Naishtat fokussiert aber auf die Zeit kurz vor dem Putsch der Generäle. Ein Insert verortet die Handlung in einer namenlosen Kleinstadt in der argentinischen Provinz im Jahr 1975.
Irritation löst schon die erste lange statische Totale aus, in der man sieht, wie verschiedene Menschen Möbel und Fernseher aus einem Haus tragen. – Offensichtlich wird dieses Haus geplündert, doch niemanden scheint dies zu stören. Auf jede Erklärung verzichtet Naishtat, lässt vielmehr eine weitere verstörende Szene folgen: In einem Restaurant pöbelt ein Fremder einen angesehenen Anwalt (Dario Grandinetti) an, der den letzten freien Platz ergattert hat, aber nichts bestellt, sondern noch auf seine Frau wartet.
Es entwickelt sich ein Disput, bis schließlich der Fremde, der die Gäste als Nazis beschimpft, des Lokals verwiesen wird. Als der Anwalt und seine Frau das Restaurant verlassen, lauert der Fremde ihnen auf und es kommt zu einer dramatischen Konfrontation. Dabei wird sich zeigen, dass der Anwalt bei der Lösung von Problemen nicht zimperlich ist.
Erst nach diesem rund 20-minütigen Auftakt taucht aus dem Hintergrund langsam in dunklem Rot der Titel auf der Leinwand auf. Sehr hoch setzt Naishtat mit diesem ebenso dichten wie verstörenden Beginn die Latte, ganz halten kann er das Niveau dieses Prologs im Folgenden nicht.
Mit einem Insert werden drei Monate übersprungen. Ruhig geht das Leben in der Kleinstadt scheinbar weiter, auch wenn immer wieder darüber gesprochen wird, dass das Militär an Einfluss gewinnt. Risse und kriminelle Machenschaften in der gehobenen Gesellschaft werden aber sichtbar, wenn ein Freund den Anwalt bittet, ihm beim Kauf eines leerstehenden Hauses zu helfen.
Offen bleibt, ob die Eigentümer dieses Hauses, das man schon in der ersten Einstellung sah, aus Argentinien geflohen sind oder aber verschleppt und ermordet wurden. Um den Kauf abzuwickeln, muss freilich ein fiktiver Eigentümer gefunden werden, den der Anwalt rasch in Gestalt eines Klienten findet, der von seinem Arbeitgeber seit längerem keinen Lohn erhalten hat. Nicht lange fragt dieser Mann nach, wem das Haus eigentlich gehört, wenn er ein Kuvert mit Geld bekommt.
Gefahr drohen könnte dem Anwalt freilich von einem Detektiv (Alfredo Castro), der aus Buenos Aires kommt, um im Fall des verschwundenen Fremden zu ermitteln und dem Anwalt immer näher zu kommen scheint. Letzten Endes scheint aber niemand an den Hintergründen des Verschwindens eines „Hippies“ wirklich interessiert zu sein.
Mit perfekter Ausstattung und verwaschenen Farben evoziert Naishtat in seinem dritten Spielfilm atmosphärisch dicht die Stimmung der 1970er Jahre. Er wollte erklärtermaßen nicht nur von dieser Zeit erzählen, sondern auch stilistisch an die amerikanischen Thriller dieser Zeit wie Francis Ford Coppolas „The Conversation“ oder Sidney Lumets „Dog Day Afternoon“ oder „Prince of the City“ anknüpfen.
Wie diese Filme die Atmosphäre der USA der 1970er Jahre evozierten, so deckt der 33-jährige Argentinier die Mitschuld des Bürgertums an der Militärdiktatur auf. Eindringlich zeigt er in seinem elegant und mit großer stilistischer Konsequenz inszenierten Mix aus Thriller und Gesellschaftsporträt, wie Verbrechen gedeckt wurden, wenn man einen persönlichen Vorteil davon hatte.
Das Rot des Filmtitels kann so sowohl auf das Blut, das an den Händen der Mittelschicht klebt, bezogen werden, ist aber auch ganz konkret präsent in den in Rot getauchten Bildern bei der Betrachtung einer Sonnenfinsternis und kann dabei auch auf den Terror der kommenden Militärdiktatur vorausweisen.
Etwas überfrachtet wirkt „Rojo“ freilich, wenn Naishtat parallel noch davon erzählt, dass die Tochter des Anwalts in der Schule für ein Tanzstück probt, in dem es um Menschenraub geht. Darüber lassen aber die brillanten Bilder von Kameramann Pedro Sotero, die den Mief und die Enge der Kleinstadt ebenso wie die unheimliche Weite der Wüste intensiv evozieren, sowie die zwei großartigen Hauptdarsteller locker hinwegsehen.
Meisterhaft gelingt es Dario Grandinetti, der aus Almodóvars „Sprich mit ihr“ und „Julieta“ bekannt ist, mit zurückhaltendem Spiel die Kaltschnäuzigkeit und Skrupellosigkeit des von allen geachteten aalglatten Anwalts zu vermitteln. Nicht minder stark ist aber auch der Chilene Alfredo Castro als Detektiv, der nicht an Gerechtigkeit interessiert ist, sondern nur seine Scharfsinnigkeit beweisen will und sich als überzeugter Helfershelfer der kommenden Machthaber präsentiert.
Läuft derzeit im Kinok in St. Gallen
Trailer zu "Rojo"
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