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AutorenbildWalter Gasperi

Aftersun


Ein Vater verbringt mit seiner elfjährigen Tochter eine Urlaubswoche in einem Ferienclub an der türkischen Riviera: Charlotte Wells entwickelt in ihrem Spielfilmdebüt aus einem Nichts an äußerer Handlung, eingebettet in die meisterhaft beschworene Urlaubsstimmung, ein Maximum an feinfühliger und bewegender Figurenzeichnung.


Das Spielfilmdebüt der 35-jährigen Charlotte Wells, die schon 2015 in ihrem intimen elfminütigen Kurzfilm "Tuesday" bewegend von einem Teenager und seiner Sehnsucht nach dem abwesenden Vater erzählte, war 2022 eine der größten Entdeckungen. Auf die Premiere in der Semaine de la critique des Festivals von Cannes folgten zahlreiche weitere Festivaleinladungen und Preise. Die renommierte amerikanische Website Indiewire wählte "Aftersun" ebenso zum besten Film des Jahres wie die britische Filmzeitschrift Sight and Sound und weltweit waren die Kritiker:innen begeistert.


Dass "Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins zu den Produzenten von "Aftersun" zählt, verwundert nicht, denn wie der Erfolgsfilm des Afroamerikaners setzt auch die Schottin stark auf das Atmosphärische. Nähe und Intimität erzeugen hier immer wieder die Videoaufnahmen, die die elfjährige Sophie (Frankie Corio) in ihrem Ferienclub in der Türkei von sich und ihrem mit gerade mal 31 Jahren noch sehr jungen Vater Calum (Paul Mescal) macht. Wenig verwunderlich ist es angesichts seines jugendlichen Aussehens, dass andere Gäste ihn einmal für Sophies Bruder halten.


Angesiedelt hat Wells "Aftersun", bei dem man im genauen Blick und der Feinfühligkeit spürt, dass hier auch persönliche Erfahrungen einflossen, in den späten 1990er Jahren. Handys und Smartphones gibt es noch keine. Die Mutter bzw. Ehefrau, die getrennt von Calum lebt, wird aus der Telefonzelle angerufen, statt aufs Display zu schauen, kommunizieren Vater und Tochter noch miteinander.


Dass Sophie ihn immer wieder filmt, nervt Calum zwar, doch Streit gibt es kaum. Einen entspannten Urlaub wollen sie genießen. Nicht viel passiert so: Oft liegt man am Pool, schmiert sich mit Sonnencreme ein, während am Himmel Paragleiter ihre Kreise ziehen. Man taucht bald im Meer und sitzt zum Abendessen und dem üblichen Abendprogramm im Garten des Hotels. Ein Ausflug, zu einem Schlammbad, das schon Kleopatra besucht haben soll, und zu einer antiken Ruine fehlen so wenig wie ein Abend, an dem die Gäste selbst Karaoke singen.


Doch da gibt es dann eben auch noch den Blick und die Begegnungen der von Frankie Corio großartig gespielten Sophie. Denn sie spielt mit älteren Jungs Billard, blickt auf Teenager, die sich am Pool küssen, spielt mit einem gleichaltrigen Jungen ein Videospiel, bis es in der Nacht zu ersten schüchternen Küssen kommt.


So erzählt "Aftersun" auch vom Ende der Kindheit, von der anbrechenden Pubertät Sophies, bietet aber zunehmend auch tiefere Einblicke in die Verfassung ihres Vaters. Wirkt er am Beginn noch fröhlich und glücklich darüber, dass er den Urlaub mit seiner Tochter verbringen kann, wird zunehmend auch eine schockierend dunkle Seite sichtbar.


Perfekt harmonieren der für einen Oscar nominierte Paul Mescal und die Debütantin Frankie Corio. Jede Dialogzeile, jede Geste und jeder Blick stimmen hier. Man spürt die tiefe innere Verbundenheit und Liebe, die Zärtlichkeit, aber gleichzeitig auch die Ahnung, dass dies nicht auf Dauer so bleiben wird.


So erzählt Wells intensiv von einer Vater-Tochter-Liebe, doch einen besonderen Dreh bekommt "Aftersun" dadurch, dass die Urlaubsszenen im Blick der erwachsenen Sophie verortet sind. Kurz gehalten sind die Gegenwartsszenen mit einem Erwachen am Morgen neben ihrer Partnerin oder mit Discoszenen, bei denen die im Stroboskoplicht nur bruchstückhaft sichtbaren Gesichter mit der Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung an den 20 Jahre zurückliegenden gemeinsamen Urlaub korrespondieren.


So stellt sich durch diesen retrospektiven Blick eine Stimmung der Melancholie und der Trauer, ein Gefühl einer verlorenen, glücklichen und unbeschwerten, schließlich aber auch von Tragik überlagerten Zeit ein, an die es nur noch Erinnerungen gibt. Erst aus der Erwachsenenperspektive wird Sophie langsam bewusst, in welcher psychischen Verfassung sich ihr Vater damals befand. Als Kind konnte sie diese nicht wahrnehmen.


Das Wunderbare an "Aftersun" ist, in welch schwebender Erzählweise, die auch durch die zeitgenössischen Songs von "Macarena" bis "Losing my Religion" verstärkt wird, Wells davon erzählt. Ungemein stimmig ist ihr Film in der Beschwörung der Urlaubsatmosphäre und lässt gleichzeitig tief und nachwirkend in die Gefühlswelt der ProtagonistInnen eintauchen, bis der Film sich zu Queens und David Bowies "Under Pressure" und einer fulminanten Montagesequenz zu einer Emotionalität hochschraubt, die einem das Herz zerreißen kann.


Denn um ein schweres Thema geht es letztlich in diesem "Urlaubsfilm" und doch bleibt "Aftersun" immer leicht und sanft, dramatisiert nie, sondern setzt auf die Kraft seiner poetischen Bildsprache und schafft einen wunderbar fluiden Schwebezustand zwischen Glück und Trauer, zwischen gegenwärtigem Erleben und flüchtiger Erinnerung, zwischen Unbeschwertheit und der Last, die das Leben darstellen kann.


Aftersun Großbritannien / USA 2022 Regie: Charlotte Wells mit: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall, Sally Messham, Brooklyn Toulson, Spike Fearn, Ruby Thompson Länge: 102 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. Spielboden Dornbirn: Di 16.5. + Mi 24.5. - jeweils 19.30 Uhr


Trailer zu "Aftersun"



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