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AutorenbildWalter Gasperi

All Shall Be Well

Ist die leibliche Familie oder die jahrelange Partnerin wichtiger? – Der Hongkonger Ray Yeung erzählt in seinem bei der Berlinale mit dem Teddy Award für den besten Spielfilm ausgezeichneten sensiblen Drama, wie der plötzliche Tod der seit Jahrzehnten mit Angie liierten Pat zunehmend zu Rissen in der Beziehung zwischen Angie und Pats Familie führt.


"All Shall Be Well" lautet der Titel, doch wirklich gut sind die Verhältnisse nur am Beginn, während sie dann für Angie (Patra Au) sukzessive schlechter werden. Aber zunächst wandern die Mittsechzigerin und ihre Partnerin Pat (Lin-Lin Li), die seit mehr als 30 Jahren ein Paar zusammenlebt, noch durch die Natur. Gemeinsam bereiten sie das Frühstück zu, schminken sich im Badezimmer und kaufen auf dem Markt ein. Beliebt ist das Paar, das aufgrund der in Hongkong nicht erlaubten gleichgeschlechtlichen Ehen nicht verheiratet ist, auch bei den Floristinnen, bei denen es noch Blumen fürs anstehende Mondfest kauft.


Pat ist zweifellos die aktivere von beiden. Sie hat noch im Alter begonnen Wirtschaft zu studieren und träumt von der Eröffnung eines Shops mit Mode für Senior:innen. Gut situiert ist das Paar, wohnt in einem geräumigen Apartment, in das am Abend Pats große Familie zum Essen eingeladen wird.


Die harmonische Stimmung, die Lebensfreude und die Unbeschwertheit werden durch die in goldbraune Farben und warmes Licht getauchten Bilder unterstützt. Auch eine Flasche mit teurem Whisky wird geöffnet und gemeinsam ein Brettspiel gespielt.


Sichtbar wird aber auch ein ökonomisches Gefälle, wenn von der langen Arbeitslosigkeit von Pats Bruder gesprochen wird, und Pat ihrem Neffen Geld für die Reparatur seines Autos zusteckt. Noch deutlicher wird die bedrückende Lebenssituation der Familie später, wenn man einen Blick in die beengte Wohnung von Pats Nichte und ihrer Familie werfen kann oder Pats Schwägerin in einem kleinen Hotel die Zimmer reinigen sieht.


Doch Angie und Pat scheinen noch viele glückliche Jahre zu winken, bis die scheinbar schlafende Pat plötzlich auf Fragen von Angie nicht mehr reagiert. – Ihren Tod spart Ray Yeung aus, zeigt nach einer kurzen Schwarzblende nur die Familie mit ihrer Urne.


Zurückhaltend und ruhig ist die Inszenierung des Hongkongers, der den Japaner Yasujiro Ozu und den Hongkonger Stanley Kwan als seine Vorbilder nennt und bei dessen leisem und sanftem Drama man auch an die Filme Hirokazu Kore-Edas denken kann. Die Kamera von Leung Ming-kai bleibt oft auf Distanz, auffallend viele Szenen werden durch Gitter oder Raumteiler gefilmt, die die Figuren einsperren. Gänzlich verzichtet wird auf Filmmusik.


Wie beim Tod Pats setzt Yeung mehrmals Schwarzblenden, um Ereignisse zu überspringen und eine neue Situation zu präsentieren. Zunehmend entwickeln sich aber hier Risse in den Beziehungen zwischen der leiblichen Familie Pats und ihrer verwitweten Partnerin Angie. Spürbar wird die veränderte Situation auch durch veränderte Lichtverhältnisse, denn dunkler als am Beginn sind nun die Bilder.


Übergangen wird da Angie schon bei ihrer Forderung nach Erfüllung von Pats Wunsch nach einer Seebestattung, denn da der Feng-Shui-Meister, dem die Schwägerin vertraut, erklärt, dass dies Unglück über die Familie bringen würde, wird die Urne in einem Columbarium beigesetzt. Die Zurückversetzung Angies wird dabei auch visuell sichtbar, wenn sie bei der Trauerfeier nicht in der ersten Reihe, sondern hinter der Familie stehen muss.


Im Gegensatz von Seebestattung und Nische im Columbarium kann man aber auch ein Spiel mit Weite und Enge und mit Freiheit und Zwang sehen. Nicht mehr die Wünsche der Toten werden nämlich damit berücksichtigt, sondern die Familie entscheidet nach ihrem Gutdünken – und auch die Meinung von Angie bleibt dabei auf der Strecke.


Geschickt dreht Yeung die Schraube weiter, wenn es nach einer weiteren Schwarzblende in einer Sitzung mit dem Notar ums Erbe geht. Weil Pat kein Testament hinterlassen hat, soll alles an ihren Bruder fallen, Angie aber leer ausgehen. Vor allem der Verlust der gemeinsamen Wohnung würde sie schwer treffen, doch Pats Bruder vertröstet sie zunächst, dass man später darüber reden werde.


Unaufdringlich, aber beharrlich beginnt die zuvor zurückhaltende Frau nun um ihre Rechte und ihre Würde zu kämpfen und während Angies Beziehung zu Pats Familie zunehmend Risse erhält, gewinnen ihre Freundinnen an Gewicht. Diese bringen ihr nicht nur emotionale Unterstützung, sondern prüfen auch rechtliche Möglichkeiten.


Yeungs Kunst besteht nicht nur darin, dass er wunderbar unaufgeregt in sorgfältig kadrierten, ruhigen Einstellungen erzählt und nichts aufbauscht, sondern auch darin, dass er mit der Schilderung der schwierigen ökonomischen Situation auch das Verhalten der Familie nachvollziehbar macht. Die Sympathie des Films liegt zwar klar bei Angie, doch verteufelt wird niemand, sodass dieses leise und sehr feinfühlige Drama auch durch seine Differenziertheit und Ausgewogenheit überzeugt.

 

 

All Shall Be Well Hongkong 2024 Regie: Ray Yeung mit: Patra Au, Lin-Lin Li, Tai-Bo, So-Ying Hui, Chung-Hang Leung, Fish Liew, Rachel Leung, Lai Chai Ming Länge: 93 min.



Läuft jetzt in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.



Trailer zu "All Shall Be Well"



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