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AutorenbildWalter Gasperi

Alle die Du bist

Zwischen Liebe und Fabrikarbeit im Braunkohlerevier bei Köln: Michael Fetter Nathansky verbindet in seinem ebenso ungewöhnlichen wie starken Langfilmdebüt realistisches Sozialdrama und poetische Liebesgeschichte, in der auch magische Momente nicht zu kurz kommen.


Beim Vorstellungsgespräch erlitt Paul (Carlo Ljubek) eine Panikattacke. Jetzt hat er sich im Keller der Firma eingesperrt. Seine Partnerin Nadine (Aenne Schwarz) eilt herbei, klettert durch einen Durchschlupf in den Raum, findet dort aber Paul in Gestalt eines mächtigen Stiers, den sie mit ihrem Streicheln beruhigt, bis er sich in ein kleines Kind verwandelt und die Tür öffnet.


Paul ist für Nadine eben keine feste Person, sondern – wie der Titel "Alle die Du bist" schon andeutet – fluide und vielgestaltig. Mal sieht sie in ihm den gleichaltrigen Partner, der sich liebevoll um ihre beiden Kinder kümmert, aber im Berufsleben immer wieder ihre Unterstützung braucht, dann einen wutschnaubenden Stier, ein ängstliches Kind, einen unbekümmerten Teenager oder eine grauhaarige Frau.


Diese Vielgestaltigkeit sorgt nicht nur für magische Momente, sondern lenkt auch den Blick auf die Frage nach unserer Wahrnehmung von anderen Personen. Explizit genauer hinzuschauen fordert Michael Fetter Nathansky, wenn er in einer Szene eine Arbeitskollegin Nadine sogar Geld gibt, damit sie sie endlich einmal wirklich anschaut und nicht an ihr vorbei oder durch sie durchschaut. Wie man an Paul sieht, kann sich dabei aber auch das Bild, das wir von jemandem haben, je nach Situation oder aber im Lauf der Zeit ändern.


Der 31-jährige Regisseur überrascht bei seinem Langfilmdebüt aber auch durch den Verzicht auf eine lineare Erzählweise. Bruchlos springt er zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und markiert die unterschiedlichen Zeitebenen nur durch einen kleinen Wechsel des Bildformats.


Bald schildert er die erste Begegnung von Nadine und Paul, als die alleinerziehende Mutter einen Job in einer Fabrik im Rheinischen Braunkohlerevier antritt, in der schon Pauls Vater gearbeitet hat, dann bricht die Liebe bei einer Faschingsfeier aus, aber auch Arbeitskämpfe der Belegschaft gegen Umstrukturierung des Betriebs und Kündigungen bleiben nicht aus.


Keine stringente Handlung wird so entwickelt, sondern vielmehr ergibt sich wie bei einem Puzzle aus einzelnen bruchstückhaften Szenen langsam ein Gesamtbild. Wie Vergangenheit und Gegenwart dabei ineinanderfließen, verzahnt Fetter Nathansky auch leichthändig die private Liebesgeschichte und die Arbeitswelt.


Untrennbar sind diese beiden Ebenen verbunden, denn der zermürbende Arbeitskampf hat auch Auswirkungen auf die Beziehung. Anders sieht das allerdings die Beamtin vom Arbeitsamt, die in einem Gespräch mit dem Paar zwar unsichtbar bleibt, aber auf eine strikte Trennung von Liebe und Arbeit pocht und die Frage nach der Liebe in den Räumen ihres Büros außen vor lassen möchte.


Für Romantik ist hier kaum Platz. Während Totalen des Braunkohlereviers in der Umgebung von Köln mit qualmenden Kraftwerken und Szenen der Fabrikarbeit die Handlung stimmig und atmosphärisch dicht in einen geographisch-sozialen Raum einbetten, vermitteln die verwaschen-schmutzigen Farben und die geringe Schärfentiefe, die den Blick immer wieder auf das erschöpfte Gesicht von Nadine lenkt, die Belastungen des Alltags und die Anstrengungen, die dieses Leben den Menschen abverlangt.


Aber auch die Verwendung von Dialekt erzeugt Authentizität, lässt Figuren und Gefühle echt wirken und sorgen in Verbindung mit der intensiv spielenden Hauptdarstellerin Aenne Schwarz und bis in die Nebenrollen trefflich besetzten Figuren dafür, dass die Beziehung von Nadine und Paul einem nahegeht und berührt.


Dünn gesät sind hier glückliche und entspannte Momente, wie ein Ausflug des Paares mit den beiden Kindern mit einem Wohnmobil in ein Erlebnisbad. Mehr Raum nehmen die Fabrikarbeit und Sitzungen der Belegschaft ein, bei denen immer auch die Spannungen zwischen den Arbeiter:innen zu eskalieren drohen.


Aber sichtbar wird in den Szenen auch, wie sich die Beziehung zwischen Nadine und Paul im Lauf von sieben Jahren verändert. Denn nicht nur die Aufgabe als Sprecherin der Belegschaft fordert Nadine, sondern auch die Panikattacken Pauls und zunehmend fremd wird ihr der Mann, den sie einst so geliebt hat. Immer noch lehnt sie sich an seinen Rücken, doch die Liebe ist erloschen und unwiederbringlich verloren.


So korrespondiert der Niedergang des Braunkohlebergbaus auch mit dem Schwinden der Liebe und dem Zerbrechen der Beziehung. Ganz selbstverständlich fließen dabei sozialrealistisches Drama à la Ken Loach und poetische Liebesgeschichte ineinander und auch mit den magischen Momenten schlägt Fetter Nathansky, der auch schon am Drehbuch von Sophie Linnenbaums ebenso originellem wie verspieltem "The Ordinaries" mitarbeitete, eine ganz eigene und originelle Richtung im deutschen Kino ein.

 


Alle die Du bist

Deutschland / Spanien 2024

Regie: Michael Fetter Nathansky

mit: Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Sara Fazilat, Youness Aabbaz, Jule Nebel-Linnenbaum, Sammy Schrein, Naila Schuberth, Skyla Theissen, Alexandra Huber Länge: 108 min.



Läuft derzeit in den deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.


Trailer zu "Alle die Du bist"



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