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AutorenbildWalter Gasperi

Am Rand der Gesellschaft: Die Filme von Andrea Arnold


Fish Tank (2009)

Mehr als fürs Kino arbeitete die 1961 geborene Andrea Arnold in den letzten Jahren fast fürs Fernsehen. Doch mit ihren vier Spielfilmen "Red Road" (2006), "Fish Tank" (2009), "Wuthering Heights" (2011) und "American Honey" (2016) sowie dem Dokumentarfilm "Cow" (2021) gehört die Britin, der das Stadtkino Basel im April und Mai eine Retrospektive widmet, dennoch zu den herausragenden Regisseur:innen des aktuellen Autorenkinos.

Als Spätberufene kann man die in einer Arbeiterfamilie als ältestes von vier Kindern aufgewachsene Andrea Arnold bezeichnen. Zwar begann sie schon mit zehn Jahren Geschichten zu schreiben, brach dann aber mit 16 die Schule ab, arbeitete zunächst als Tänzerin, dann mehrere Jahre beim Fernsehen als Moderatorin des Kinderprogramms "No. 73".


Erst mit 37 drehte sie mit "Milk" (1998) ihren ersten Kurzfilm, auf den 2001 "Dog" folgte. Erst nach dem 23-minütigen "Wasp" (2003), für den sie 2005 mit dem Oscar für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde, legte sie 2006 mit 45 Jahren ihr Kinodebüt "Red Road" vor.

Verstörend erzählt Arnold in diesem in Glasgow spielenden Thrillerdrama, das als erster Teil der von Lars von Trier, Gillian Berrie, Lone Scherfig und Anders Thomas Jensen ausgeschriebenen Advance-Party Filmreihe entstand, von einer Überwachungsbeamtin, die auf den Monitoren einen Mann entdeckt, der Erinnerungen weckt.


Wie die von Kate Dickie eindringlich gespielte Protagonistin über die Monitore voyeuristisch in die Intimsphäre der Observierten eindringt, überwachen die Zuschauer:innen diese Frau, die kaum soziale Kontakte pflegt. So wird "Red Road" einerseits zu einer faszinierenden Reflexion über das voyeuristische Verhalten der Kinobesucher:innen, andererseits aber auch zur intensiven Evokation der Einsamkeit und Isolation in der modernen Kommunikationsgesellschaft. Verstärkt wird dieses Gefühl der Verlorenheit und Tristesse durch die monochromen rotbraunen Bilder sowie trostlose Hochhaussiedlungen.


Atmosphärisch dicht eingefangene, bedrückende Lebensbedingungen kennzeichnen auch "Fish Tank" und "American Honey", die auch die jugendlichen Protagonistinnen und das enge 4:3 Format verbinden. Förmlich eingesperrt wird dadurch in "Fish Tank" die 15-jährige Mia, die von Katie Jarvie mit großem Körpereinsatz gespielt wird, in das britische Unterschichtmilieu, in dem sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer jüngeren Schwester lebt.


Genau fängt Arnold im Stil des sozialrealistischen Kinos eines Ken Loach oder Mike Leigh die sozialen Verhältnisse ein. Nie drängt sich aber die Milieuschilderung mit verdreckter Wohnung, sich selbst überlassenen Kindern und zum Alkohol neigender, hoffnungslos überforderter Mutter (großartig: Kierston Wareing) in den Vordergrund und nie wird das Elend voyeuristisch ausgestellt.


Enormen Drive und Intensität entwickelt "Fish Tank" dabei durch die hautnah geführte Kamera und einen nervösen Schnitt, die die Unruhe, den Zorn, die Zerrissenheit und Rastlosigkeit Mias direkt nach außen kehren. Am Rand der Gesellschaft stehen so die Protagonist:innen von Arnolds Filmen zwar immer wieder, doch damit abfinden wollen sie sich nicht, sondern kämpfen verbissen für ihre Träume.


Den gleichen Lebenshunger und das leidenschaftliche Brennen für Träume wie Mia kennzeichnet auch die junge Star (Sasha Lane) in "American Honey", Arnolds bislang einzigem amerikanischen Film. Auch bei dieser mäandernden Reise durch einen alles andere als idyllischen amerikanischen Mittelwesten ist die Handkamera von Arnolds Stammkameramann Robby Ryan hautnah an der Protagonistin dran und bewegt sich ganz selbstverständlich mit ihr.


Keine sorgfältig kadrierten Einstellungen sind das Ziel, sondern die Bilder dürfen auch mal unscharf und verwackelt sein. Quasidokumentarisch sollen das Leben und die Gefühle eingefangen werden. Wie "Fish Tank" wird so auch dieser "Easy Rider" des 21. Jahrhunderts, für den Arnold nach "Red Road" und "Fisch Tank" zum dritten Mal in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, zu einem vibrierenden und vor Energie strotzenden Porträt einer Jugend auf der Suche nach ihrem Platz im Leben.


Nicht weniger schroff und rau – und gerade dadurch auch kraftvoll – legte Arnold auch ihre Verfilmung von Emily Brontës Roman "Wuthering Heights" (2011) an. Auch hier versetzt eine unruhige Handkamera mitten ins Geschehen und vermittelt hautnah Dynamik und Hektik. Wiederum engt sie auch mit dem fast quadratischen 4:3 Format die Figuren ein und schnürt ihnen förmlich den Atem ab. Gleichzeitig bringt sie mit der Besetzung des von der Gesellschaft nicht akzeptierten Findelkindes Heathcliff mit dem schwarzen Briten James Howson auch noch die Thematik des Rassismus ins Spiel.


In keine Schublade pressen lassen sich so die Filme der Britin, die in den letzten Jahren auch jeweils mehrere Folgen für die Fernsehserien "Transparent" (2015 – 2017), "I Love Dick" (2017) und "Big Little Lies" (2019) drehte. Trotz aller Gemeinsamkeiten ihrer Filme versucht sie aber auch, sich nie zu wiederholen und stets etwas neues auszuprobieren. So überraschte sie 2021 mit dem Dokumentarfilm "Cow", in dem sie mit größter Zärtlichkeit über 90 Minuten der Kuh Luma von der Geburt bis zur Schlachtung folgt.


Wieder ist die Kamera, die hier Magda Kowalczyk führte, hautnah an der Protagonistin dran. Menschen bekommt man höchstens ansatzweise zu Gesicht. Auf jeden verbalen Kommentar kann Arnold getrost verzichten, sie beschränkt sich darauf zu zeigen und verwendet als Soundtrack die Popsongs, die in einem Radio im Stall laufen.


Mag Arnold dabei auch einen durchschnittlichen landwirtschaftlichen Betrieb ausgewählt haben, so erzählt doch jede Szene von der Degradierung der Tiers zum Objekt, zum reinen Nutztier, das einzig dazu da ist, Kälber zu gebären und Milch zu liefern, aber keinen eigenen Wert hat. Mit ihrer Fokussierung auf der Kuh macht Arnold Luma aber wieder zum Subjekt und macht die Schrecken ihrer Zurichtung erfahrbar, zu der nur wenige Szenen auf den Wiesen, in denen man spürt, wie die Kühe den Biss ins grüne Gras und den weiten Auslauf genießen, einen Gegenpol bieten.


So kann man auch in der Kuh Luma, wie in den Protagonist:innen von "Fish Tank" und "American Honey" den Widerspruch von harter Realität und Träumen sehen. Allein Luma bleibt jede Möglichkeit des Ausbruchs aus ihrem Milieu bzw. dem landwirtschaftlichen Betrieb verwehrt.


Weitere Informartionen zur Retrospektive im Stadtkino Basel und Spieldaten finden Sie hier.


Videoessay zu Andrea Arnold (10 min.)


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