Eine Mutter wird wegen eines Vorfalls mit ihrem sechsjährigen Sohn in die Grundschule gerufen, doch beim Elterngespräch stellt sich rasch heraus, dass der Sachverhalt nicht so klar ist, Interpretationen der Eltern und Verzerrungen das Bild prägen: Was realistisch beginnt, wandelt sich in Halfdan Ullmann Tøndels großartig gespieltem Kammerspiel zunehmend zu einer von surrealen Momenten durchzogenen Auslotung menschlicher Verhaltensweisen.
Wie der Wagen von Elisabeth (Renate Reinsve) in den ersten Einstellungen durch die Wälder einer norwegischen Landstraße rast, lässt schon spüren, wie sehr Elisabeth unter Druck steht. Verstärkt wird dieses Gefühl durch den wiederholten Wechsel von Außenaufnahmen des Autos und Detailaufnahmen des Gesichts der Fahrerin.
Währenddessen beraten in der Schule der Direktor, die Schulpsychologin und die junge Lehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen), wie sie im Fall von Elisabeths sechsjährigem Sohn Armand vorgehen sollen. Was genau vorgefallen ist, bleibt vorerst offen. Direktor und Sozialarbeiterin wollen das Elterngespräch jedenfalls der Lehrerin überlassen. Konkretes Procedere gebe es dafür keines, sie soll nur nüchtern bleiben und nichts aufbauschen.
Als Elisabeth eintrifft, erklärt Sunna, dass es um nichts Ernstes gehe, will aber mit der Darlegung des Falls bis zum Eintreffen der Eltern des zweiten betroffenen Schülers Jon warten. Als auch Anders (Endre Hellestveit) und Sarah (Ellen Dorrit Petersen) anwesend sind, führt Sunna in den Sachverhalt ein, schafft es aber nicht mit freien Worten darüber zu sprechen, sondern liest die Niederschrift vor, in der geschildert wird, wie Armand in der Toilette sexuell übergriffig geworden sei und gedroht habe, Jon anal zu vergewaltigen.
Elisabeth reagiert verstört, erklärt, dass man auch Armand seine Sicht der Dinge darstellen lassen müsse, kann ihn aber telefonisch nicht erreichen. Da das Gespräch sukzessive eskaliert, werden bald auch der Direktor und die Schulpsychologin zugezogen.
Realistisch ist somit der Beginn, doch zunehmend schleichen sich surreale Momente in den Film ein. Den Beginn kann man schon darin sehen, wie Kameramann Pål Ulvik Rokseth die Schule wie eine mächtige Burg oder die langen Gänge wie in einem Horrorfilm filmt, und auch die wiederholten Anfälle von Nasenbluten bei der Schulpsychologin oder der immer wieder unkontrolliert ausgelöste Feueralarm lösen Irritation aus.
Wie Halfdan Ullmann Tøndel am Beginn die Information über den Vorfall zurückhält, so bietet er auch in andere Aspekte erst zögerlich Einblick. Langsam wird nämlich erst klar, in welcher Beziehung die beiden Mütter Elisabeth und Sarah stehen, auch ein tragisches Ereignis spielt herein und auch der Direktor ist kein Außenstehender, war er doch schon der Lehrer von Sarah und Elisabeths Mann.
In dem praktisch in Echtzeit ablaufenden und sich ganz auf das Schulgebäude konzentrierenden Kammerspiel lotet der 34-jährige Enkel von Ingmar Bergman und Liv Ullmann, der für sein Debüt in Cannes mit der Camera d´Or für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, aber vor allem dicht aus, wie persönliche Befindlichkeiten der Eltern so ein Schulgespräch bestimmen, wie vergangene Erfahrungen das aktuelle Gespräch mitbestimmen, wie schwierig es ist, Kinderaussagen zu beurteilen und wie sehr diese teilweise auch von Eltern aufgebauscht oder falsch interpretiert werden.
Da wird bei jeder Reaktion von Elisabeth vermutet, dass sich die berühmte Schauspielerin inszenieren will, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ein endlos langer unkontrollierter Lachanfall als Reaktion auf einen Vorschlag der Schulpsychologin wird zur Show erklärt, auch wenn das Lachen schließlich in Weinen übergeht. Vor allem wird aber zunehmend eine tiefe Feindseligkeit Sarahs gegenüber Elisabeths sichtbar, obwohl doch beide nach außen hin als beste Freundinnen gelten.
Visuell greifbar wird diese Ungewissheit dabei durch die geringe Schärfentiefe, durch die Figuren im Hintergrund immer nur unscharf zu sehen sind: Klare Erkenntnis ist eben schwierig und auch der Dreh des Films mit gegenüber digitalen Produktionen körnigerem 16-mm-Material verleiht ihm einen ganz eigenen Touch.
Irritation lösen vor allem die Begegnungen und Zweiergespräche in den Pausen des Elterngesprächs aus. Denn da wird bei einem Treffen von Elisabeth und Sarahs Mann Anders nicht nur eine verstörende Nähe spürbar, sondern unvermittelt tanzt Elisabeth in den Gängen auch mit einer Reinigungskraft oder sie sieht sich umringt und geliebt von einer Gruppe von Frauen, die sie berühren wollen, bis die Szene plötzlich in Aggression kippt und sie sich angegriffen fühlt.
Gerade weil "Armand – Elternabend" so realistisch und alltäglich beginnt, macht dieser Einbruch surrealer Momente den Film nicht gerade leicht und verstört. Andererseits muss man es Tøndel hoch anrechnen, dass er es nicht bei einer realistischen Nachzeichnung eines Elternabends belässt, sondern diesen eben mit irrationalen Momenten aufbricht, um Sehnsüchte, Begierden und Ängste seiner Figuren sichtbar zu machen.
Dieser Mut zum Ausbruch aus dem Konventionellen macht dieses intensive Debüt, das durch die visuell eigenwillige Inszenierung der Schule teilweise einen traumartigen Charakter entwickelt, aufregend. Getragen wird aber so ein Kammerspiel immer von seinen Schauspieler:innen.
Fulminant agiert hier Renate Reinsve nicht nur bei ihrem mehrminütigen Lachanfall, sondern versteht es auch eindrücklich, den ganzen Facettenreichtum und die Zerrissenheit ihres Charakters zu vermitteln. Kaum weniger stark ist aber auch Ellen Dorrit Petersen, die sukzessive tiefer in den Charakter von Sarah blicken lässt.
Großartig ist auch Thea Lambrechts Vaulen als Nachwuchslehrerin, die mit der schweren Aufgabe vom Direktor mehr oder weniger allein gelassen wird. Spürbar macht sie die Unsicherheit ihrer Figur und die Schwierigkeit beim Vermitteln zwischen den Konfliktparteien unvoreingenommen zu bleiben, wird ihr doch vorgeworfen, dass sie durch ihre Begeisterung für Elisabeth befangen sei.
So einfach und klar Titel und Ausgangssituation klingen, so wenig ist "Armand – Elternabend" letztlich ein eindeutiger und einfacher Film. Aber in der detailreichen Auslotung des Umgangs der Charaktere miteinander bietet Tøndel einen packenden Einblick einerseits in menschliche Verhaltensweisen, die immer auch von vergangenen Erfahrungen, aber auch von Vorurteilen beeinflusst sind, andererseits aber auch in die Schwierigkeit von Kommunikation und der Wahrheitsfindung bei Sachverhalten, bei denen man allein auf Aussagen – und in diesem Fall noch auf Aussagen von Kindern – vertrauen muss.
Armand – Elternabend Norwegen / Niederlande / Dänemark / Schweden 2024 Regie: Halfdan Ullmann Tøndel mit: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Thea Lambrechts Vaulen, Øystein Røger Länge: 117 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen. - ab 16.1. in den deutschen und ab 21.3. in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "Armand - Elternabend"
Comments