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AutorenbildWalter Gasperi

Bericht über die 69. Berlinale

Aktualisiert: 20. Apr. 2019

Gehobener Durchschnitt dominierte auch die letzte Berlinale unter der Leitung von Dieter Kosslick. Dünn gesät waren die echten Höhepunkte. Der Goldene Bär ging an „Synonymes“ des Israeli Nadav Lapid, „nur“ Schauspielerpreise gab es für Wang Xiaoshuais bewegendes dreistündiges Epos „So Long, My Son“, den überragenden Film des Wettbewerbs.


Die Schere ging bei der 18. und letzten Berlinale unter der Leitung von Dieter Kosslick, dem der bisherige Locarno-Leiter Carlo Chatrian nachfolgen wird, auseinander. Auf der einen Seite standen (allzu) konventionell erzählte, auf der anderen fragmentierte, nicht immer leicht zugängige Filme.


Goldener Bär für „Synonymes“

Vor Rätsel stellt zunächst auch Nadav Lapid den Zuschauer, wenn er in seinem autobiographisch inspirierten „Synonymes“ einem Mann mit Rucksack durch Paris folgt und eine leere Wohnung aufsuchen lässt, wo er seiner letzten Sachen beraubt wird. In bruchstückhaften Szenen bekommt man langsam Einblick, dass Yoav vor seiner Vergangenheit flieht, von seinem Militärdienst in Israel traumatisiert ist, seine alte Identität völlig ablegen und eine neue – französische – annehmen will. Deshalb spricht er kein Wort hebräisch, sondern rennt mit einem Französisch-Wörterbuch durch Paris. Ganz so leicht ist ein Identitätswechsel aber doch nicht. Lapid, dessen Film auch von der FIPRESCI, der Jury der Filmkritiker, ausgezeichnet wurde, erzählt nicht stringent, sondern reiht einzelne Szenen aneinander, die sich langsam zu einem zumindest fragmentarischen Bild fügen. Manche der Szenen bleiben – zumindest nach dem erstmaligen Sehen – aber auch isoliert stehen, sodass die teilweise grossartigen, von herrlich bösem Witz durchzogenen Szenen sich stärker einprägen als der Film als Ganzes.


Regiepreis für Angela Schanelec

Mit dem Regiepreis zeichnete die Jury Angela Schanelec für „Ich war zuhause, aber…“ aus. Die deutsche Regisseurin treibt die Fragmentierung in ihrem Film, dessen Titel an Yasujiros „Ich war geboren, aber…“ anknüpft und in seinen zahlreichen Ellipsen, aber auch im zumeist monotonen Sprechen der Darsteller an die kargen Filme Robert Bressons erinnert, noch viel weiter. Schanelec verweigert sich konsequent dem Erzählen einer Geschichte und reiht zusammenhanglos einzelne Szenen aus dem Alltag einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern aneinander. Parallel dazu sind auch Szenen von Grundschülern, die Shakespeares „Hamlet“ proben, und an Anfang und Ende ein Hund, ein Kaninchen und ein Esel zu sehen. Spürbar ein Stachel im Fleisch des Erzählkinos will „Ich war zuhause, aber…“, der wie kein anderer Film des Wettbewerbs polarisierte, sein. Unübersehbar will Schanelec die Schwierigkeit der Kommunikation thematisieren und fragt nach Täuschung und Echtheit in der Kunst, aber sie macht es dem Zuschauer mit der losen und emotionslosen Szenenfolge schwer, sich dafür zu begeistern.


Darstellerpreise für „So Long, My Son“

Für Diskussionen sorgte, dass während des Festivals Zhang Yimous „One Second“ zurückgezogen wurde. Offiziell wurden als Grund technische Probleme bei der Postproduktion angegeben, spekuliert wurde aber, dass der Film, der während der Kulturrevolution spielt, von den chinesischen Behörden keine Freigabe bekam. Umso überraschender war dann, die heftige Kritik an der jüngeren chinesischen Geschichte und an der Gegenwart, die Wang Xiaoshuai in „So Long, My Son“ formulierte. Als letzter Film ging dieses dreistündige Epos in den Wettbewerb – und überstrahlte ihn. Nicht ganz leicht ist es zwar bei der komplexen Rückblendenstruktur zunächst den Überblick über die einzelnen Zeitebenen zu bewahren, doch schon die erste Szene, in der ein Kind beim Baden ums Leben kommt, nimmt gefangen. Nicht nur den ganzen Film, sondern auch das ganze Leben eines Paares und dessen Bekannten überstrahlt dieser Verlust. Die Heimat in Nordchina haben sie danach verlassen, ein Kind adoptiert, doch über den Verlust kamen sie nie hinweg. Von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart spannt Wang den Bogen und verknüpft meisterhaft das Private mit dem Politischen. Mit der „Ein-Kind-Ehe“ wird ebenso abgerechnet wie mit den Repressionen nach „Geheimen Partys“, aber auch das moderne China bekommt sein Fett ab, wenn das gealterte Paar bei seiner Rückkehr in die Heimat feststellt, dass alle Spuren der Vergangenheit ausgelöscht wurden, und nun eine Mao-Statue vor einem Einkaufszentrum steht. Nicht mit Grossaufnahmen und schneller Schnittfolge presst Wang Emotionen hinein, sondern lässt seinen beiden Hauptdarstellern Yong Mei und Wang Jingchun, die zurecht mit den Darstellerpreisen ausgezeichnet wurden, aber auch den glänzenden Nebendarstellern in langen distanzierten Einstellungen Raum und Zeit ihre Gefühle zu vermitteln. So entwickelt sich ein bewegendes Epos mit grossem Atem, das mühelos die Spannung über drei Stunden aufrecht hält.


Preise für „Grâce á Dieu“ und „Systemsprenger“

Wohl auch aus aktuellen Gründen konnte die Jury "Grâce á dieu", in dem sich François Ozon nach einem authentischen Fall mit dem sexuellen Missbrauch durch katholische Priester auseinandersetzt, nicht übergehen und zeichnete das Drama mit dem "Großen Preis der Jury" aus. „Systemspringer“, in dem die Debütantin Nora Springenscheidt von einem Kind erzählt, das gegen alle Ordnungen rebelliert, erhielt dagegen den Alfred-Bauer-Preis.


Drehbuchpreis für „La paranza dei bambini“

Der Drehbuchpreis für Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi und Roberto Saviano für "La paranza dei bambini" (Regie: Claudio Giovannesi) scheint insgesamt eher ein Votum für die Parteinahme für Kinder, die in Neapel in die Kriminalität abgleiten, als für ein besonders raffiniertes oder ausgefeiltes Buch. Stark sind zwar die jungen Laiendarsteller, aber zu glatt und zu schnell, um wirklich in die Tiefe vordringen zu können und zu packen, erzählt Claudio Giovannesi.


Preis der Ökumenischen Jury für „God Exists, Her Name is Petrunija“

Mehr hätte man diesen Preis der Makedonierin Teona Strugar Mitevska für "God Exists, Her Name is Petrunija" gegönnt, der von der offiziellen Jury übersehen wurde, aber von der Ökumenischen Jury als bester Film des Wettbewerbs ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt von Mitevskas Satire steht eine gut 30jährige arbeitslose Historikerin, die mehr zufällig als gezielt in eine Dreikönigsprozession gerät, bei der ein Priester ein kleines Holzkreuz in einen Fluss wirft. Nach ungeschriebenem Gesetz dürfen nur Männer danach tauchen, doch auch Petrunija springt ins eiskalte Wasser und findet als erste das Kreuz. Das führt freilich zu heftigem Protest der Männer, sodass bald nicht nur die Behörden, sondern auch die Medien ins Spiel kommen. So entwickelt sich eine geschickt aufgebaute bissige Satire auf die patriarchale Macht und die Bürokratie, die von einer starken und von Zorica Nusheva stark gespielten Protagonistin getragen wird.


Die Schweiz in Berlin: „African Mirror“

Die Schweiz war an der Berlinale in den Jugendfilm-Sektionen mit dem Dokumentarfilm „Where We Belong“, in dem Jacqueline Zünd Kinder von geschiedenen Eltern begleitet, sowie den kurzen Animationsfilmen „Kids“ von Michael Frei, „Dernier jour d´automne“ von Marjolaine Perreten und „Zibilla“ von Isabelle Favez vertreten. Dazu kam im Forum der Essayfilm „African Mirror“, in dem sich Mischa Hedinger ganz auf Filmaufnahmen und Tondokumente des Schweizer Reisejournalisten, Fotografen, Filmemachers und Vortragsreisenden René Gardi (1909 – 2000) beschränkt. Auf jeden Kommentar verzichtet der Filmemacher und lässt das sorgfältig montierte Material für sich sprechen. In den 1950er Jahren prägte Gardi mit seinen Vorträgen und Filmen über Afrika – und dabei im Speziellen über Kamerun – das Bild dieses Kontinents in der Schweiz, doch Hedinger macht durch die Montage auch sichtbar, dass Gardi seine Sehnsüchte in seine Filme und Vorträge projizierte. So stellte er dem Bild des nach Sicherheit und Luxus strebenden Eidgenossen das Bild des edlen Wilden gegenüber, der scheinbar frei und ungebunden lebt. Sichtbar wird dabei auch sowohl die Überheblichkeit des Europäers, der ganz selbstverständlich von einem primitiven Volk spricht, als auch die Inszenierung dieser vermeintlichen Dokumentarfilme, wenn Gardi eine Hochzeit ebenso nachstellen lässt wie eine Begegnung zwischen einem jungen Afrikaner und einer Afrikanerin.

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