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Bird

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi
"Bird": Andrea Arnold verbindes Sozialrealismus und märchenhafte Momente
"Bird": Andrea Arnold verbindes Sozialrealismus und märchenhafte Momente

Eine Zwölfjährige, die in tristen Verhältnissen aufwächst, freundet sich mit einem Außenseiter an: Andrea Arnold mischt schonungslosen Sozialrealismus mit märchenhaften Momenten und beschwört in einer bedrückenden Welt die kleinen Schönheiten des Alltags.


Tiere haben es der Britin Andrea Arnold angetan. Schon ihr 2005 mit dem Oscar ausgezeichneter Kurzfilm trug den Titel "Wespen" (2003), "Fish Tank" (2009) titelte sie ihr Porträt einer auf sich allein gestellten Jugendlichen und ganz konkret das Leben einer Milchkuh von der Geburt bis zum Tod stand im Zentrum ihres Dokumentarfilms "Cow" (2021).


Auch in "Bird" tauchen immer wieder Tiere auf, im Zentrum steht aber die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams). Mit ihr kehrt Arnold zu den randständigen, ganz auf sich gestellten jungen Frauen zurück, denen sie sich schon in "Wespen" und "Fish Tank" widmete. Von der alleinerziehenden 23-jährigen Mutter in "Wespen" über die 15-jährige Mia in "Fish Tank" zu Bailey wurden dabei die Protagonistinnen sukzessive jünger.


Geblieben sind aber die prekären Verhältnisse, in denen auch Arnold selbst mit einer sehr jungen Mutter und drei Geschwistern aufwuchs. Ihr irischer Stammkameramanns Robbie Ryan vermittelt mit hautnah geführter, unruhiger Handkamera in Verbindung mit dem nervösen Schnitt von Joe Bini auch hier schon in der ersten Szene, in der das Mädchen mit einem Mann mit einem E-Scooter durch ein nahe bei London gelegenes Küstenstädtchen rast, die Aufgekratztheit und Rastlosigkeit der Charaktere. – Verstärkt wird diese Stimmung noch durch den dynamischen Song "Too Real" der Post-Punk-Band Fontaines D.C..


Glaubt man zunächst, dass der Mann Baileys älterer Bruder oder Freund ist, so erfährt man bald, dass es sich um ihren Vater (Barry Keoghan) handelt. Gemeinsam mit ihm und ihrem älteren Halbbruder Hunter lebt sie in einem für den Abbruch bestimmten Haus. Dicht und ungeschminkt fängt Arnold die tristen Wohnverhältnisse ein.


Wie dieser Bau mit Graffitis übersät ist, so sind Kopf und Körper von Baileys Vater mit Tätowierungen bedeckt. Für seine androgyne Tochter, die auch mit ihrer sexuellen Identität zu ringen scheint, hat er keine Zeit. Ganz auf die Hochzeit mit seiner neuen Freundin, die er erst seit drei Monaten kennt, sowie auf eine neue Geschäftsidee sind seine Gedanken gerichtet. Mit einer Kröte will er das große Geld machen, indem er aus deren Schleim eine Droge gewinnt.


Während Baileys Bruder Hunter in die Kriminalität abdriftet und mit einer Gang in Selbstjustiz gegen Pädophile und gewalttätige Väter und Ehemänner vorgeht, zieht sich die Jugendliche vor allem in die Felder und Moore am Stadtrand zurück. Der wiederholten Einengung durch Gitter am Beginn des Films steht damit eine Offenheit der Bilder gegenüber. In dieser freien Natur filmt Bailey mit ihrem Handy nicht nur Pferde und Kühe, sondern vor allem Vögel und projiziert diese Bilder in ihrer Wohnung dann an die Wand.


Bei diesen Streifzügen trifft sie aber auch auf den Vagabunden Bird (Franz Rogowski). Schon äußerlich ist dieser Mittdreißiger, der vielleicht nur in Baileys Einbildung existiert, mit seinem Faltenrock und seinem zerschlissenen Pullover ein seltsamer Typ und vermittelt auch in seinem Verhalten das Bild eines sanftmütigen Naiven.


Langsam kommen sich die beiden Außenseiter näher, gleichzeitig weitet Arnold die bedrückende Milieuschilderung, wenn Bailey ihre Mutter besucht. Diese ist mit ihrer Aufgabe nämlich genauso überfordert wie der Vater. Lieber vergnügt sie sich mit ihrem neuen, gewalttätigen Liebhaber als sich um die drei kleinen Geschwister Baileys zu kümmern.


In Kontrast zu diesem beklemmenden Sozialrealismus, zu dem neben den Bildern auch die Mischung aus Profischauspieler:innen und unverbrauchten Laien sowie der Slang der Dialoge beiträgt, stehen die poetischen und märchenhaften Momente, die sich sukzessive einschleichen. Da findet Bailey nicht nur im Blick auf die Vögel – ein Bild, das etwas überstrapaziert wird – schon früh Ruhe, sondern auch bei der Betrachtung eines Schmetterlings auf ihrem Finger. Den Blick für das Schöne öffnet ihr auch Bird, der für sie überraschend von einem wunderbaren Tag spricht und sie so die Natur anders sehen lässt.


Während die Kröte mit Geschäft verbunden ist und die Vögel für Freiheit und Unbeschwertheit stehen, bekommt der kleine Hund von Baileys Geschwistern die Wut des Liebhabers der Mutter zu spüren. Arnold treibt diese Tierebene aber noch weiter, wenn ein Rabe helfend eingreift, und schließlich auch mächtige Flügel einerseits zum Kampf eingesetzt werden, andererseits schützend über Bailey gelegt werden.


Mit diesen märchenhaften Elementen entfernt sich Arnold weit vom Sozialrealismus eines Ken Loach und geht ein Risiko ein, denn angreifbar wird sie mit diesen Träumereien. Andererseits scheint sie darin in düsteren Zeiten den einzigen Weg zu sehen, Hoffnung zu verbreiten, denn eine Wendung zum Positiven scheint auf realistischer Ebene kaum denkbar.


Doch auch den von Barry Keoghan mit Verve gespielten Vater lässt die 63-jährige Regisseurin im Finale väterliche Gefühle entwickeln und auch die Musik, die sukzessive sanfter wird, sorgt für eine versöhnliche und optimistische Stimmung. – Glauben, dass dieser Moment des Glücks Bestand haben wird, will man allerdings kaum, denn der bedrückende Alltag wird diese Underdogs sicherlich bald wieder einholen.

 

 

Bird

Großbritannien / USA / Frankreich / Deutschland 2024 Regie: Andrea Arnold mit: Nykiya Adams, Barry Keoghan, Franz Rogowski, Jason Buda, Frankie Box, Jasmine Jobson Länge: 119 min.



Läuft derzeit xxx

Kinotheater Madlen, Heerbrugg: Mo 7.4., 20.15 Uhr

FKC Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 23.4., 18 Uhr + Do 24.4., 19.30 Uhr


Trailer zu "Bird"



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