Chronologisch geordnet im Folgenden in den letzten zwei Jahrzehnten verfasste Rezensionen zu Filmen von Christopher Nolan.
Memento (2000)
Christopher Nolan zwingt in seinem Neo-Film Noir nicht nur seine Hauptfigur, sondern auch das Publikum sich ständig an das schon Geschehene beziehungsweise Gesehene zu erinnern.
Blut an einer Kellerwand und ein Polaroidfoto von einem erschossenen Mann zeigen die ersten Bilder, doch dann entwickelt sich das Foto zurück und gleitet wieder in die Sofortbildkamera. Der Erschossene steht auf und die Patronen werden aus der Pistole genommen. - Statt mit der im klassischen Erzählkino üblichen großen Rückblende nun die Vorgeschichte zu schildern, erzählt Christopher Nolan ausgehend von der Anfangssequenz konsequent Szene für Szene die Ereignisse rückwärts: Am Anfang des Films steht das Ende der Geschichte und am Ende der Anfang.
Leonard (Guy Pearce) wurde beim Versuch die Ermordung seiner Frau zu verhindern schwer verletzt und verlor dabei sein Kurzzeitgedächtnis. Um sein Leben halbwegs zu organisieren, muss er alles aufschreiben und fotografieren. Aber vor allem sein Körper, auf den er die wichtigsten Fakten im Zusammenhang mit dem Mörder seiner Frau tätowiert, dient ihm als Gedächtnisersatz. Leonards ganzes Denken und Handeln ordnet sich dabei dem spiegelbildlich auf seine Brust tätowierten Satz "John G. raped and murdered your wife" unter.
Traditionell erzählt wäre dies eine simple, altbekannte Mord- und Rachegeschichte, doch durch die Umdrehung der Linearität und die Konzentration auf die Perspektive der Hauptfigur versetzt der 31jährige Engländer Nolan auch das Publikum in diesen gedächtnislosen Zustand. Wie es Leonard nur mühsam gelingt, sich an die früheren Ereignisse zu erinnern, so gewinnt auch der Zuschauer erst langsam den Überblick, muss die jeweils sichtbare Szene mit den schon gesehenen, aber zeitlich erst folgenden verknüpfen und am Ende den gesamten Handlungsablauf in chronologischer Anordnung nochmals im Gedächtnis rekonstruieren.
"Memento" fordert vom Publikum ständiges konzentriertes Sehen und Mitdenken und bestraft Unachtsamkeit mit Unverständnis. - So wird dieser virtuos konstruierte und geschnittene Thriller über Gedächtnis- und Identitätsverlust und über Gedächtnisersatz durch Konditionierung und Instinkt durch seine Form auch für den Zuschauer zum Gedächtnistraining. - Anstrengend ist das zweifellos, aber auch aufregender und innovativer als das geradlinige und überraschungsarme Mainstream-Kino.
Batman Begins (2005)
Christopher Nolan setzt in seiner Comic-Verfilmung auf Realismus. Ironische Brechungen haben in diesem Film noir des Briten keinen Platz. Ernsthaft wird hier von der Traumatisierung und den Schuldgefühlen des Industriellensohnes Bruce Wayne und von seiner Verwandlung in Batman erzählt.
Ohne Vorspann wird der Zuschauer in Christopher Nolans Prequel zu den vier Batman-Filmen, die Tim Burton („Batman“, 1989; „Batmans Rückkehr“, 1991) und Joel Schumacher („Batman Forever“, 1995; „Batman und Robin“, 1997) drehten, hineingeworfen: Ein Junge spielt im Garten, fällt in einen Brunnenschacht und hat ein traumatisches Erlebnis mit Fledermäusen. – Von dieser Szene springt der Film in ein Strafgefangenenlager, in dem Bruce Wayne (Christian Bale) aus diesem Alptraum hochschreckt. Immer wieder blendet Nolan vom tibetischen Gefangenen- und Ausbildungslager, in dem der Held seinen Lebensweg sucht, sich von seiner Angst befreien will und im Kampf ausgebildet wird, in die Kindheit zurück.
Bruces Ängste, aber auch sein Verlangen wahrer Gerechtigkeit zu dienen erklärt Nolan mit schweren Traumatisierungen in der Kindheit. Denn Bruce fühlt sich schuldig am Tod seiner Eltern und diese Schuldgefühle trieben ihn auf die Reise, ließen ihn wie den Romantiker Novalis die explizit zitierte „Blaue Blume“ suchen. Im tibetischen Lager treffen aber zwei Ansichten von Gerechtigkeit aufeinander: Während Bruce nur die Verbrecher bestrafen und die Unschuldigen schonen will, ist sein Meister Ra´s al Ghul (Ken Watanabe) der Ansicht, dass ganz Gotham City wie einst „Sodom und Gomorra“ im Alten Testament (Moses 1, Kap. 18,23) als Hort des Verbrechens ausgelöscht werden müsse.
Zwingend und ernst werden diese Gedanken diskutiert, großen Drive und Dichte besitzt „Batman Begins“ in der ersten Stunde durch das hohe Tempo, die souveräne Einbindung von Rückblenden und die in ihrer Geschlossenheit bestechende visuelle Gestaltung. Nicht nur durch die vorherrschenden Blau- und Grautöne, sondern mehr noch durch die Tundren- und Gletscherlandschaft evoziert Nolan eine bedrückende und düstere Atmosphäre.
Ständig in Dunkel getaucht ist auch Gotham City, in das Bruce Wayne etwa zur Hälfte des Films zurückkehrt – ein Moloch, in dem das Verbrechen und Korruption regieren und Obdachlose die verrotteten Straßen bevölkern. Unübersehbar vom Film noir und Ridley Scotts „Blade Runner“ ist diese Stadtbeschreibung inspiriert.
Gegenpol zu dieser düsteren Welt ist nur das schlossartige Anwesen, wo sich Bruce unterstützt von seinem Butler Alfred (Michael Caine), der als einziger Humor in diesen Film bringt, in Batman verwandelt.
Mit dieser Schauplatzverlagerung verliert „Batman Begins“ aber ein Stück seiner Intensität und an die Stelle des packenden Diskurses über Rache und Gerechtigkeit tritt spektakuläres Action-Kino. Schleppend wirken die detaillierten Erklärungen zur Genese von Batmans Kostüm und Batmobil und der finale Showdown ist zwar rasant und spannend, doch auch vorhersehbar und lebt allein von seinen Oberflächenreizen.
Es ist einerseits dieser Gegensatz zwischen dem philosophischen Beginn und dem bei einer 180 Millionen Dollar-Produktion als Konzession ans Massenpublikum vermutlich unvermeidbaren effektreichen Finale, andererseits aber auch der zu seiner Comic-Verfilmung nicht ganz passende und gestelzt wirkende Ernst, an dem „Batman Begins“ zerbricht und den Zuschauer nicht enttäuscht, aber auch nicht vollauf begeistert zurücklässt. Da nützt es auch nichts, dass die Settings und die visuelle Gestaltung fantastisch sind, Hans Zimmers und James Horners Soundtrack ebenso variantenreich wie spannungstreibend ist und die Hauptrollen mit Michael Caine als Butler Alfred, Morgan Freeman als hilfreichem Erfinder Lucius Fox , Liam Neeson als zwielichtigem Lehrer und Christian Bale als Bruce Wayne / Batman perfekt besetzt sind.
Prestige – Die Meister der Magie (2006)
Kino und Zauberei haben vieles gemeinsam. Auf beiden Gebieten geht es um Illusion und Täuschung, um Verführung und schließlich um eine Staunen hervorrufende Auflösung. – Christopher Nolan inszeniert das erbitterte Duell zweier Magier folglich wie einen raffinierten Zaubertrick und überrascht bis zum Ende mit stets neuen Wendungen.
Wie ein Conferencier leitet Michael Caine in den Film ein, fordert den Zuschauer auf, genau hinzusehen und weiß doch schon, dass dieser gar nicht alles entdecken will, sondern Vergnügen gerade daraus bezieht, dass er sich täuschen lässt. Wenn Caine dann auch erklärt, dass jeder Zaubertrick drei Abschnitte benötige, dann darf man erwarten, dass damit auch die Lesart für den Film vorgegeben wird.
Das Versprechen oder die Vorstellung eines alltäglichen Gegenstands stellt in diesem Fall der Tod des Zauberers Angier (Hugh Jackman) und der daraus resultierende Prozess gegen seinen Kollegen Borden (Christian Bale) dar. In verschachtelten Rückblenden, die der Wendung im Zaubertrick entsprechen, wird die Vorgeschichte von der Ursache ihrer erbitterten Feindschaft bis zu ihrem Kampf um Ansehen und den besten Trick erzählt, ehe im wiederum in der Gegenwart des Films spielenden Finale, dem Prestige des Zaubertricks, das die unglaubliche Wendung offenbart, die Lösung geliefert wird.
Über die Handlung darf wie bei einem Zaubertrick auch nur so viel verraten werden, dass Nolan wie ein guter Zauberer den Zuschauer bis zum Ende mit ständig neuen Wendungen überrascht. Nichts ist hier so, wie es scheint und die Meisterschaft und Leichtigkeit, mit der die verschachtelte Geschichte erzählt wird, macht „Prestige“ schon einmal zu einem großen Kinovergnügen. Nolan macht es sichtlich Spaß drei Zeitebenen zu verschränken und die grauen Zellen des Zuschauers durch Wechsel dieser Ebenen ständig zu fordern.
Nicht zufällig ist dieser sorgfältig ausgestattete Historienfilm auch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert situiert. Beiläufig reflektiert Nolan über eine Zeitenwende, die Elektrifizierung und die Konkurrenz von Magie und Wissenschaft, und thematisiert auf einer Metaebene die Mechanismen des Kinos als der Zauberei des 20. Jahrhunderts. Einen Reflex auf Kostümfilm und „Frankenstein“ kann man in diesem raffinierten Spiel auch sehen.
Nicht zu kurz kommen beim Duell der verfeindeten Magier aber auch Nolans wiederkehrende Themen. Um die labile und wechselnde Identität kreisten schon „Memento“, „Insomnia“ und „Batman Begins“. Hier weist schon die Lichtführung, durch die häufig nur eine Gesichtshälfte der Figuren ausgeleuchtet, die andere aber in Schatten getaucht wird, auf Gespaltenheit hin. Nur im gleissenden Scheinwerferlicht der Bühne sind die Zauberer plan ausgeleuchtet. Reine Figur gibt’s hier kaum eine und Scarlett Johannsson erscheint wie eine Femme fatale aus einem Film noir.
Wie Batman und der Cop in „Insomnia“ sind die Zauberer aber auch Getriebene ihrer Obsession. Nur der Trick allein ist nichts, wichtiger noch sind die Ovationen der Massen. Unerträglich ist es für Angier bei einer Vorstellung im Untergeschoß zu sitzen, während seinem betrunkenen Double applaudiert wird. Besessen sind Angier, der aus aristokratischem Milieu stammt und deshalb einen Künstlernamen annimmt, und der der Arbeiterschicht angehörende Borden vom Verlangen nach Ruhm, vom Wunsch besser zu sein als der andere und dessen Tricks zu durchschauen. Schon früh aber wird Angier auch darauf hingewiesen, dass diese Besessenheit verheerende Folgen haben wird.
Was bei der Kunstfertigkeit und dem Raffinement von Nolans Inszenierung auf der Strecke bleibt, ist freilich die emotionale Komponente. Die Figuren, auch die verfeindeten Zauberer erscheinen wie bei einem Zaubertrick nur als Marionetten eines alle Register seiner Kunst ziehenden Regisseurs, gewinnen aber kein Eigenleben.
The Dark Knight (2008)
Nach «Batman Begins» führt Christopher Nolan zum zweiten Mal Regie bei einem Batman-Film. «The Dark Knight» ist noch düsterer als der Vorgänger und voll direkter Anspielungen auf die aktuelle gesellschaftliche Lage der USA. – Ein bis in die Nebenrollen exzellent besetzter Blockbuster, der bis zum Schluss die Balance zwischen spektakulären Actionszenen und inhaltlicher Tiefe wahrt.
Der sechste Batman-Film seit 1989 ist kein schrilles Spektakel wie beispielsweise «Batman Forever» (1995) und «Batman & Robin» (1997), bei denen Joel Schumacher Regie führte, sondern knüpft direkt an «Batman Begins» an.
Wie in diesem düsteren Vorgänger wird der Zuschauer auch hier ohne Vorspann förmlich hinein geworfen in den Film, der mit einem brutalen Banküberfall einsetzt. Enormen Drive entwickelt dieser erste Batman-Film, der die Hauptfigur nicht im Titel führt, in dieser Eröffnung. Sofort ist klar, dass das Verbrechen in Gotham City – Spiegelbild von New York, doch gedreht wurde «The Dark Knight» in Chicago – die Oberhand hat, die teils korrumpierte Polizei machtlos ist. – Ist es legitim, wenn hier ein selbsternannter Ordnungshüter wie Batman eingreift und mit den Verbrechern aufräumt?
Die Mafia häuft ein Vermögen mit Drogenhandel an, doch gefährlicher ist der Joker, ein Freak mit grell geschminktem Gesicht, der keine materiellen Ziele verfolgt, auch nicht nach Macht und Weltherrschaft wie die Supergangster in den Bond-Filmen strebt, sondern einzig Chaos und Anarchie schaffen, Batman herausfordern und den Menschen bewusst machen will, dass in jedem das Böse schlummert, das nur herausgekitzelt werden muss.
Mit «Zaubern wir ein Lächeln auf dein Gesicht!» setzt dieser vom im Jänner im Alter von 29 Jahren verstorbenen Heath Ledger dämonisch gespielte Joker seinen Opfer immer wieder ein Messer an den Mund und erfindet schaurige Geschichten über seine eigenen Narben. Sein zweites Motto ist «Komm spiel mit mir!», denn Joker geht es letztlich nicht um den Sieg, sondern um den Kampf und den Akt der Zerstörung. Ohne Gegner wäre er seines Lebensinhalts beraubt.
Schillernd ist dieser Psychopath, Herz und Kraftzentrum von «The Dark Knight», blass bleiben muss dagegen konsequenterweise Christian Bale in der Hauptrolle, da er weder als millionenschwerer Konzernchef Bruce Wayne und schon gar nicht als Batman über eine Identität verfügt. Sein Helden-Image – wenn es das je gab – demontiert Christopher Nolan, der zusammen mit seinem Bruder Jonathan das Drehbuch schrieb, geradezu. Wenn er angeblich zum Wohl der Gesellschaft neue Überwachungsmethoden – die Anspielung auf den Patriot-Act der Bush-Administration ist unübersehbar – einsetzt, erinnert ihn sogar sein Diener Alfred an seine Grenzen und wirft die Frage nach Macht und Ethik auf.
Und auch am Ende wird Batman nicht als Held dastehen, sondern wird sich selbst zum Opfer machen, um das Ansehen des «White Knight» - des Staatsanwalts Harvey Dent - nicht zu beeinträchtigen und damit den Glauben der Menschheit an das Gute nicht zu zerstören. Seine Gegenfigur hat Batman nämlich in diesem offiziellen Vertreter des Rechts, der im Rahmen der Gesetze gegen das Verbrechen kämpft. Ein blonder Strahlemann ist dieser Dent, steht freilich auch in Rivalität zu Wayne/Batman, da er ihm seine einstige Geliebte Rachel wegzuschnappen droht.
Auch diesen scheinbar aufrechten Kämpfer für das Gute wird Joker aber manipulieren, wird an ihm Dents eigene Aussage «entweder man stirbt als Held oder lebt lange genug und wird selbst zum Schurken» belegen.
Joker, der ohne Motiv handelt, ist das personifizierte Böse an sich und fungiert als Katalysator, der immer wieder die abgründigen Seiten des Menschen ans Tageslicht treten lässt. Nicht er begeht (alle) Morde, sondern unbescholtene Bürger werden von ihm so manipuliert und instrumentalisiert, dass sie ohne Zögern einzelne Menschen oder auch ganze Schiffe in die Luft sprengen. – Und der schon vorab abgekanzelte Schwerverbrecher zeigt da plötzlich mehr Menschlichkeit als der Durchschnittsbürger.
«The Dark Knight», der nicht nur im Poster den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001, sondern mindestens auch zweimal den Ground Zero zitiert, wirft die Frage auf, wie die Gesellschaft und wie Menschen im Chaos reagieren. Für selbstironische Spielereien, wie sie Sam Raimi in den «Spiderman»-Filmen praktiziert, ist hier kein Platz. Nolan nimmt Figuren und Geschichte ernst, verzichtet auf Spielereien und inszeniert hart und konsequent - und flackert doch noch Humor auf, so ist dieser ausgesprochen schwarz.
Besser als im Vorgänger fügen sich hier die zurückgenommenen Comic-Elemente wie einige Flugszenen oder das fantastische Batmobil in die realistische Inszenierung ein. Großartig ist auch die visuelle Gestaltung mit der Einbettung der Handlung in eine beeindruckend eingefangene bzw. am Computer generierte düstere Großstadtkulisse und der perfekte Mix aus spektakulären, aber nie zum selbstzweckhaften Feuerwerk verkommenden Actionszenen und Konfrontationen der Protagonisten. Und bei letzteren trägt schließlich die bis in die Nebenrollen treffende Besetzung mit Michael Caine als Butler, Lucius Fox als Batmans Waffenexperte oder Maggie Gyllenhaal als Ex-Freundin Rachel wesentlich zum starken Gesamteindruck dieses Blockbusters bei.
Inception (2010)
Christopher Nolan dreht zweifellos die komplexesten Blockbuster im gegenwärtigen Kino. Atemberaubend ist auch die visuelle Ebene seines neuen Thrillers, in dem Leonardo DiCaprio mit seinem Team in die Träume anderer eindringt und diese manipuliert – doch man wird den Eindruck nicht los, dass mit enormem Aufwand eine im Grunde intime Geschichte von Schuld und Trauma effektvoll aufgeplustert wird.
Schon seit seiner Jugend schwebte Christopher Nolan nach eigener Aussage vor einen Film über Traum und Realität zu machen, vor acht Jahren habe er das Drehbuch zu «Inception» geschrieben. Der Erfolg von «The Dark Knight» (2008) ermöglichte ihm nun mit 160 Millionen Dollar diesen Jugendtraum umzusetzen.
Komplexe Konstruktionen, ein Spiel mit Schein und Wirklichkeit, sind Grundkonstanten im Werk des 1970 geborenen Briten. Konsequent rückwärts erzählt wird die Geschichte in «Memento» (2000), in dem ein erinnerungsloser Mann vergangene Vorgänge zu rekonstruieren versucht. In «Insomnia» (2004) verschwimmen für Al Pacino als Cop unter der Mitternachtssonne Alaskas immer mehr die Grenzen zwischen Wachzustand, Halluzinationen und Schlaf und in «Prestige - Die Meister der Magie» (2007) entfaltet Nolan ein furioses Spiel mit Zaubertricks, Wahrnehmungstäuschungen und Realität.
In die Traumwelten seiner Figuren entführt der Brite den Zuschauer nun in «Inception». Dom Cobb hat sich darauf spezialisiert in die Träume anderer einzudringen, Manipulationen im Unterbewusstsein vorzunehmen oder die Gedanken zu stehlen. Für einen japanischen Geschäftsmann soll er nun aber einem Konkurrenten nichts stehlen, sondern einen Gedanken einpflanzen, der ihn dazu bewegt sein Unternehmen zu verkaufen.
Der Ablauf entspricht in Folge grob gesagt einer Mischung aus einem Heist-Movie im Stile der «Ocean's»-Trilogie und der James-Bond-Filme. Wie in Soderberghs spritzigen Gangsterkomödien muss zunächst ein Team von Spezialisten aufgestellt werden und wie bei James Bond gibt es spektakuläre Action-Szenen wie ein langes Geballer um eine Festung im winterlich verschneiten Gebirge inklusive Snowmobil-Verfolgung.
Das Ungewöhnliche ist freilich, dass die Handlung zwar in der Gegenwart, großteils aber in den Träumen der Figuren spielt. Bis zu vier Traumebenen werden ineinander verschachtelt, nicht immer ist klar, in wessen Traum man sich nun befindet und in die Träume des einen können auch wieder Erinnerungen und Projektionen eines anderen einbrechen.
Fantastische Bilder gelingen Nolan hier, wenn er seine «Traum-Architektin» – und damit gewissermaßen das Alter Ego des Regisseurs – Paris plötzlich aufklappen und spiegeln lässt, sodass die Protagonisten problemlos von der Horizontalen in die Vertikale wechseln, wenn ein Zug aus einem anderen Traum mitten durch eine Straßenszene rast oder wenn sich ein Straßenzug in seine Bestandteile auflöst, weil ein Traum einstürzt, die Protagonisten aber mitten drin vor einem Café ganz ruhig sitzen bleiben.
So in Bildern erzählen, solche Bildräume entwerfen und neben der räumlichen Dimension auch die zeitliche ins Spiel bringen kann man nur in der Kunstform Film. Hier muss nichts mit Worten erklärt werden, sondern alles wird in Handlung und Bilder umgesetzt. Virtuos beherrscht Nolan dieses Spiel und entwickelt, nicht zuletzt dank eines brillanten Soundtracks von Hans Zimmer von Beginn an einen ungeheuren Sog, zieht den Zuschauer hinein ins Geschehen.
Doch hat man dann einmal dieses Spiel von Traum und Realität, dessen zentrale Frage nach dem Wahrhaftigkeitscharakter unseres Erlebens und unserer Wahrnehmung sehr an «The Matrix» erinnert, durchschaut, bleibt im Kern doch eine recht dünne und altbekannte Geschichte.
Da mögen die Grenzen der Realitätsebenen noch so verschwommen bleiben und am Ende auch die Möglichkeit offen gelassen werden, dass alles nur ein Traum war, so wird im Grunde doch vor allem von Schuld und Trauma des Protagonisten und einem ungelösten Vater-Sohn-Konflikt des Industriellen, in dessen Gedankenwelt das Team eindringen muss, erzählt.
Wie in Scorseses «Shutter Island» ist hier der von Leonardo diCaprio gespielte Cobb nie über den Verlust seiner Frau (Marion Cotillard) hinweggekommen. Und wie bei «Shutter Island» bricht auch hier die schmerzhafte Erinnerung immer wieder hervor und wirft Cobb aus der Bahn. Aber während Scorsese konzentriert und mit Inbrunst von diesem Trauma erzählte, DiCaprio Raum ließ die Gequältheit seiner Figur zu vermitteln, wird hier diese eigentliche Erzählung von der Bilderflut und den Effekten immer wieder in den Hintergrund gedrängt.
Man bewundert die Bildgewalt von «Inception» und die brillante Verschachtelung der Ebenen, lässt sich vielleicht auch vom intelligenten Diskurs über Traum und Realität zu eigenen Gedanken anregen, doch emotional lässt einen dieser spektakuläre Thriller kalt. Erstklassig sind zwar alle Rollen besetzt, aber Nolan lässt den Schauspielern keinen Raum komplexere Charaktere, für die man sich interessieren könnte, zu entwickeln. Fremd bleiben sie einem so und zu bruchstückhaft die tragische Ehegeschichte Cobbs, als dass sie berühren könnte.
Deutlich zu lang geraten sind auch der schussreiche Kampf um die Festung und – bei aller Raffinesse – auch die parallel dazu spielenden schwerelosen Szenen in einem Hotel. Da will ein Regisseur ganz offensichtlich mehr seine Kunstfertigkeit, seine Meisterschaft im Verschränken der Ebenen demonstrieren als die Geschichte wirklich vorantreiben.
Künstlich aufgeblasen wirkt so einiges und gemessen an dem, was man sich erwartet hat, ist «Inception» deshalb eine kleine Enttäuschung, ein spektakulärer Film, der einen mehr als einmal staunen lässt und der weit intelligenter ist als die gängigen Blockbuster, ist Christopher Nolan mit seinem neuesten Streich aber ganz gewiss wieder gelungen.
The Dark Knight Rises (2012)
Visuell eindrucksvoll und gespickt mit spektakulären Actionszenen ist Christopher Nolans Abschluss seiner «Batman»-Trilogie, an den fulminanten zweiten Teil reicht dieser Film aber nicht heran. Der Ernst und die Betonung der Düsternis erdrücken «The Dark Knight Rises» förmlich und in der Handlungsfülle bleibt kein Raum für plastischere Entwicklung von Szenen und Figuren.
Von den Anfängen bis zum Ende erzählt Christopher Nolan in seiner Trilogie die Geschichte von «Batman». Das Comichafte stutzte der Brite radikal zurück, wählte einen realistischen und düsteren Zugang. Kein strahlender Held ist Bruce Wayne (Christian Bale) alias Batman bei Nolan, sondern ein schwer traumatisierter Mensch, der nur in äußersten Krisenzeiten als «Batman» eingreift.
Wie die James-Bond-Filme und wie «The Dark Knight» beginnt auch «The Dark Knight Rises» unvermittelt mit einer spektakulären Actionszene. Direkt hinein geworfen wird man damit ins Geschehen, an «The Dark Knight» anknüpfend und dessen Ende aufnehmend setzt nach der Auftaktszene dann die eigentliche Handlung ein.
Acht Jahre sind seit «The Dark Knight» vergangen. Bruce Wayne lebt zurückgezogen auf seinem Anwesen, auch körperlich ist er angeschlagen und geht am Stock. Das Verbrechen scheint in Gotham City besiegt, doch in dem stets eine Atemmaske tragenden Söldner Bane (Tom Hardy) droht eine neue Gefahr. Im Untergrund der Stadt baut er eine Armee auf, will die Mächtigen und Besitzenden stürzen, gewinnt die Besitzlosen für die Revolution für sich, errichtet dann aber eine Terrorherrschaft und droht die ganze Stadt mit einer Bombe zu vernichten. Nach langem Zögern sieht sich Wayne zum Eingreifen gezwungen, doch übermächtig scheint der Gegner...
Noch dunkler als die ersten beiden «Batman»-Filme von Nolan ist «The Dark Knight Rises». Keine Hoffnung auf Rettung scheint es zu geben, schwerste Niederlagen muss Bruce Wayne / Batman einstecken. Keinen Triumph gibt es hier, sondern diese Niederschläge, Verlust, Trauma und Wut stehen im Zentrum, alles Heldenhafte treibt Nolan dieser ambivalenten, physisch ebenso wie psychisch schwer angeschlagenen Figur gründlich aus.
Diese Hoffnungslosigkeit spiegelt sich in der düsteren Atmosphäre, die das Production-Design, dunkle Farben, die Kamera von Wally Pfister und die Musik von Hans Zimmer eindringlich beschwören. In spektakulären Szenen schildert Nolan den Zerfall jeglicher Ordnung und den Ausbruch des totalen Chaos. Visuell grandios und handwerklich perfekt ist das gemacht, und dennoch fehlt es diesem Film an emotionaler und erzählerischer Kraft.
161 Minuten lang rauscht die Handlung dahin, wartet auch mit überraschenden – und nicht unbedingt glaubwürdigen – Wendungen auf, doch verliert sich Nolan gerade auch in dieser Ruhelosigkeit. Hier bleibt kein Platz für sorgfältigen Aufbau und detailreiche Entwicklung von Szenen, sondern eine Sensation folgt auf die nächste. Originalität und Variantenreichtum in der Inszenierung lassen sich dabei aber kaum finden, mehr erschlagen als wirklich mitgerissen wird man von der Fülle, denn auch die Figurenzeichnung kommt zu kurz.
Blass bleibt Marion Cotillard als Miranda Tate, apart aber das ambivalente Potential ihrer Figur – auch aufgrund des engen Drehbuchkorsetts - nicht ausschöpfen kann Anne Hathaway als «Catwoman» und auch Tom Hardy als Bane fällt hinter Heath Ledgers «Joker» («The Dark Knight») zurück.
Ein Problem bei «The Dark Knight Rises» ist zweifellos auch, dass er stets mit den Vorgängerfilmen verglichen wird und sich mit ihnen messen muss. Was dort neu war, ist hier Wiederholung. Waren Michael Caines Butler Alfred oder Morgan Freemans Waffenexperte Lucius Fox in den ersten beiden Filmen originelle Sidekicks, so erhalten diese Figuren hier keine neuen Facetten, bleiben farblos.
Dies gilt auch für die inhaltliche Ebene. Mag Nolan mit dem Aufstand der Unterdrückten auch ziemlich plump auf die «Occupy»-Bewegung anspielen, mag es um alternative Energien und die Gefahr der Atomkraft gehen, so wurde die zentrale Frage von staatlichem Recht und Selbstjustiz angesichts ausufernden Verbrechens schon in «The Dark Knight» nicht nur erschöpfend, sondern auch zwingender abgehandelt.
Handlungsfülle und visuell eindrucksvolle Oberfläche erdrücken hier förmlich jeden Inhalt, machen ihn beliebig statt ihm Raum zur Entfaltung und dem Zuschauer Zeit zum Denken zu geben. Spektakuläres Blockbuster-Kino bietet «The Dark Knight Rises» zwar immer noch, aber Nolan ist sichtlich an seinem eigenen Anspruch gescheitert. Wie ein schwerer Kloß liegt einem dieser durch den Ernst seiner Inszenierung bleischwere Film im Magen und die Figuren bleiben einem fern. Weit weg vom Comic mag das sein, geerdet in einer finsteren Realität, doch das Menschliche, die Emotionalität fehlt diesem so ganz anderen Superhelden-Film auch.
Interstellar (2014)
Nachdem «Dark Knight»-Regisseur Christopher Nolan in «Inception» ins Unterbewusstsein und in die Welt der Träume abtauchte, lässt er nun 169 Minuten lang einen kleinen Trupp in den Weiten des Weltraums nach einem neuen Planeten für die Menschheit suchen. – Eine visuell überwältigende Weltraumoper auf den Spuren von Kubricks «2001», die sich nicht in Special Effects verliert, sondern auch kühn wissenschaftliche und philosophische Ideen vertritt.
Schlecht steht es in einer nahen Zukunft um die Erde. Heftige Sandstürme gehören im amerikanischen Mittelwesten zur Tagesordnung, außer Mais ist jedes Getreide regelmäßig von Mehltau befahlen. Die Lebensmittel werden folglich knapp und auch der Sauerstoffgehalt der Luft nimmt kontinuierlich ab.
Forschung ist verboten, ganz auf die Landwirtschaft konzentriert man sich. Doch dann stößt der Ex-Pilot und jetzige Farmer Cooper (Matthew McConaughey), der seit dem Tod seiner Frau seine zwei Kinder allein erzieht, durch seltsame, geisterhafte Botschaften auf ein geheimes Forschungszentrum der NASA. Dort wird daran gearbeitet ein Team in das All zu schicken, um eine neue Heimat für die Menschheit zu finden. Cooper wird der Pilot des Raumschiffs…
Nolan bedient sich der Theorie des Wurmlochs, um die Astronauten ohne Zeitverlust in ein weit entferntes Sonnensystem, reisen zu lassen, diskutiert die Relativität der Zeit, fragt, was hinter einem Schwarzen Loch ist und verliert bei dieser großen und spektakulären Sternenreise, doch nie den Bezug zu existentiellen Fragen.
Die für einen Nolan-Film ungewöhnlich konventionelle und ausführliche Exposition beschwört freilich zunächst den amerikanischen Pioniergeist, wenn der Brite, der zusammen mit seinem Bruder Jonathan auch das Drehbuch schrieb, dem Blick auf den Boden den Aufbruch ins Ungewisse gegenüberstellt. Wie im 19. Jahrhundert zahllose Europäer vielfach aus Not in die USA emigrierten und wie damals der Westen erobert wurde, so bricht hier das kleine Team um Cooper auf.
Gleichzeitig erzählt Nolan dabei auch eine Familiengeschichte, da Cooper schweren Herzens seine Kinder verlassen muss, und stellt sowohl bei ihm als auch bei Coopers Kollegin Brand (Anne Hathaway) dem Auftrag der Rettung der Menschheit persönliche Gefühle gegenüber.
Konzentriert sich «Interstellar» zunächst ganz auf die Weltraumfahrt und sind Coopers Kinder nur durch einzelne Videobotschaften präsent, so werden mit Fortdauer des Films das Geschehen im Weltraum und das auf der Erde in Parallelmontage zunehmend stärker verschränkt, bis die Ebenen zusammengeführt werden.
In dieser Erdbindung und Coopers Familiengeschichte kann man zwar ein Zugeständnis an das große Publikum sehen, aber diese Ebene verhindert auch, dass «Interstellar» zur kalten Weltraumoper wird. Emotional bewegende Szenen ergeben sich hier in der Fernbeziehung zwischen Cooper und seiner Tochter, eine Abfolge kurzer Videobotschaft macht eindrücklich Altern und Endlichkeit des menschlichen Lebens bewusst.
Wie großzügig und packend Nolan zu inszenieren versteht, sieht man schon am Anfang bei der Verfolgung einer Drohne durch Maisfelder. Spektakulär ist dann der Start des Raumschiffs, wenn der Lärm der Zündung und die anschwellende Musik Hans Zimmers abrupt von der absoluten Stille im All abgelöst werden.
Sensationelle Actionszenen, wie die Landung auf dem Meer eines fremden Planeten, und atemberaubende, noch nie gesehene Bilder des Weltraums und fremder Planeten wechseln dabei immer wieder mit zwischenmenschlichen Szenen, in denen existentielle Fragen diskutiert werden.
Überambitioniert ist «Interstellar» in seiner Fülle und im Versuch Wissenschaft und Liebe zu verbinden zwar, aber man sieht diesem Film auch an, wieso die Produktionskosten 165 Millionen Dollar betrugen. Wie in «Inception» riskiert Nolan trotz des großen Budgets viel. Er will Blockbusterkino mit komplexem Inhalt bieten und zitiert in einer Meeresszene ebenso unübersehbar Andrej Tarkowskijs «Solaris» wie im Roboter Tars, der hier für sarkastischen Humor sorgt, und in der visuell sensationellen Fahrt durch ein Schwarzes Loch Kubricks «2001», einen der Lieblingsfilme des 44-jährigen Regisseurs.
Anfechtbar machen die wissenschaftlichen und philosophischen Spekulationen «Interstellar» freilich. Leicht kann man das wohl als Humbug abtun, aber man kann sich auch von den hier vertretenen Ideen anregen lassen, selbst über die conditio humana, über die Frage, ob ein Gott oder letztlich nur die Menschen selbst den Lauf der Dinge steuern, nachzudenken.
Dunkirk
Zu Land, in der Luft und zu Wasser lässt Christopher Nolan den Zuschauer mit brillantem Sounddesign, furioser Kameraarbeit und perfekter Montage in die Evakuation von rund 300.000 britischen Soldaten aus der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen im Frühjahr 1940 eintauchen. Mehr als die Rekonstruktion der historischen Ereignisse geht es dem Briten dabei darum, den Zuschauer hautnah die Angst der Soldaten und ihren verzweifelten Überlebenskampf erfahren zu lassen.
Nur kurz informieren ein paar Inserts über den historischen Hintergrund und schon beginnt auf der Tonspur im Hintergrund eine Uhr zu ticken. Mitten hinein geworfen wird man in das Geschehen, wenn vom Himmel fallende rote Flugblätter einem kleinen Trupp britischer Soldaten die Aussichtslosigkeit ihrer Lage in der weitgehend verlassenen nordfranzösischen Stadt Dünkirchen bewusst machen wollen.
Sogleich geraten die Soldaten auch schon unter Beschuss durch den konsequent unsichtbar bleibenden Feind – nie ist hier von Deutschen oder Nazis die Rede. Einer nach dem anderen bricht tot zusammen, während die Kamera dem letzten Überlebenden nachhastet, bis sich für ihn und den Zuschauer der Blick auf den flachen Sandstrand öffnet, an dem rund 370.000 britische Soldaten auf ihre Evakuierung warten.
Während der ganzen folgenden 107 Minuten wird man beinahe durchgängig im Hintergrund das Ticken der Uhr hören. Sie weist auf das Rennen gegen die Zeit hin, als die sich die Evakuierung der britischen Soldaten erweist. Fast namenlos bleiben die Figuren mit Ausnahme des Schiffsjungen George, spärlich bleiben die Dialoge, ganz auf Bewegung setzt der Film.
Drei Schauplätze werden mit den Inserts «Die Mole», «Die See» und «Die Luft» eingeführt, mit großer Übersicht und perfekt kalkuliert wechselt Nolan zwischen diesen. Meisterhaft arbeitet er dabei auch mit der Zeitstruktur, indem er einerseits Ereignisse aus unterschiedlicher Perspektive und zeitlich verschoben mehrfach zeigt, andererseits den drei Handlungsebenen in etwa gleich viel Erzählzeit zugesteht, obwohl die erzählte Zeit für die Ereignisse an der Mole eine Woche, für die Überfahrt über den Ärmelkanal einen Tag und für den Flug der Spitfire eine Stunde beträgt. Schon brillant ist, wie hier auf der einen Seite die Zeit gedehnt und auf der anderen Seite gerafft wird, ohne dass dies zu einem Bruch in der Dramaturgie führen würde.
Während an der Mole von Dünkirchen die britischen Truppen auf ihre Evakuierung warten, brechen von der nur rund 50 Kilometer entfernten englischen Küste auch zivile Fischerboote zur Rettung auf. Eines dieser Boote greift Nolan heraus, folgt seinem Weg, um auf einer dritten Erzählebene vom Luftkampf zu erzählen, bei dem zwei britische Spitfire-Piloten die angreifenden deutschen Sturzkampfbomber abzuschießen versuchen.
Kein vorher und kein nachher gibt es, keine militärische Diskussionen in der Kommandozentrale, keine politischen Reden, keinen biographischen Background erhalten die Figuren, sind Stellvertreter für die namenlosen anderen Soldaten, auf Psychologisierung wird konsequent verzichtet. Damit einher geht der Verzicht auf eine klassische Handlungsentwicklung zugunsten einer bedingungslosen Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Hautnah lässt Nolan dafür den Zuschauer durch das brillante Sounddesign von Hans Zimmer und die furiose Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema das Geschehen erfahren. Unbedingt im IMAX oder bei einer 70mm-Projektion sollte man den mit IMAX-Kameras auf analogem Filmmaterial gedrehten Film ansehen, denn nur dort werden die gestochen scharfen Bilder und die Tonkulisse ihre ganze Wirkung entfalten.
Meisterhaft ist auch Nolans Arbeit mit Distanz und Nähe. Mit großen Panoramaaufnahmen des Strands von Dünkirchen vermittelt er immer wieder einen Überblick, um dann ins Detail zu gehen und den Zuschauer unmittelbar am Luftkampf oder der Notwasserung eines angeschossenen Jagdflugzeugs teilhaben und die Angst vor den Angriffen der Sturzkampfbomber ebenso intensiv erfahren zu lassen wie die in einem von einem Torpedo getroffenen Kriegsschiff zu ertrinken.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Kriegsfilmen wird dabei auf detaillierte Darstellung von Gräueln und Verletzungen einzelner Soldaten verzichten. Kein Blut sieht man hier spritzen, keine zerfetzten Gliedmaßen. Vielmehr zielt Nolan auf einen Gesamteindruck ab, will möglichst realistisch die Angst vermitteln, die hier herrscht, und den verzweifelten Überlebenskampf, den ein Kriegsgeschehen immer mit sich bringt.
Erschütternd erinnert er aber auch an die zahllosen Opfer, wenn Bombenangriffe Löcher in die Reihen der wartenden Soldaten reißen oder von einem sinkenden Schiff Geflohene verzweifelt in einem brennenden Ölteppich schwimmen, nur zwischen untertauchen und damit ertrinken oder verbrennen wählen können.
Die historischen Ereignisse an sich interessieren Nolan kaum, auch wenn Flugzeuge und Schiffe ebenso wie die Uniformen und Waffen der Soldaten sorgfältig rekonstruiert wurden. Mehr um ein Spiel mit Spannungselementen, mit Dramaturgie und mit der Zeit, um die es schon im rückwärts erzählten Thriller «Memento», aber auch im «Traum-Film» «Inception» ging, als um historische Wissensvermittlung geht es dem 47-jährigen Regisseur.
Als Action-Thriller und nicht als historischen Film sieht er folglich seinen Film, der im Grunde auch an einem anderen Ort und in einem anderen Krieg spielen könnte. Nur im Finale, in dem «Dunkirk» dann doch noch pathetisch wird, werden Überlegungen zum Kriegsgeschehen insgesamt angestellt, wird darauf hingewiesen, wie gerade dieses Desaster die Grundlage für den späteren großen Sieg darstellte.
Comments