Vielfältig präsentierte sich wieder der Spielfilmwettbewerb, erreichte aber nicht das Niveau vergangener Jahre. Den mit 5000 Euro dotierten Crossing Europe Award für den besten Spielfilm vergab die Jury an "Milk" von Stefanie Kolk, während ihm Dokumentarfilmwettbewerb Gergő Somogyváris "Fairy Garden" ausgezeichnet wurde. - Aber auch abseits der Wettbewerbe gab es Spannendes zu entdecken.
Mit der ukrainischen Produktion "Stepne", die schon letztes Jahr in Locarno auf große Beachtung stieß, überging die Jury den vielleicht stärksten Film im Spielfilmwettbewerb. Durchaus Qualitäten hat zwar auch "Milk" der Niederländerin Stefanie Kolk, doch völlig überzeugen konnte dieses Drama um eine Mutter, die über die Totgeburt ihres Kindes nicht hinwegkommt, nicht.
Dicht ist der Beginn, in dem Kolk sachlich-nüchtern und dennoch empathisch den Verlust des Kindes schildert. Genau fängt sie den Umgang der Angehörigen damit ein und die Hilflosigkeit des Ehemanns. Erscheint das Abpumpen der Muttermilch zunächst als Routine, so schafft die Frau es bald nicht mehr diese wegzuschütten. Lieber will sie sie einer Milchbank zur Verfügung stellen, wird aber wegen einer früheren Krankheit abgewiesen.
So sammeln sich die Milchfläschchen im Kühlschrank, während die Frau gleichzeitig versucht in einer Gruppe, deren Mitglieder durch schweigendes Wandern einen Verlust zu verarbeiten versuchen, über den Tod des Kindes hinwegzukommen.
Skurrilität entwickelt "Milk" bei diesen schweigenden Wandertouren ebenso wie bei den sich zunehmend mehrenden Milchfläschchen, die die Frau bald per Internet loszuwerden versucht, doch "Milk" beginnt sich mit Fortdauer auch zunehmend im Kreis zu drehen und stillzustehen, sodass sich Längen einstellen.
Preiswürdig wäre dagegen durchaus auch "En attendant la nuit" gewesen, mit dem Céline Rouzet ein spanender und geschliffen inszenierter Hybrid zwischen Genrefilm und Arthouse-Kino gelang. Von der Geburt eines Babys, das die Mutter nicht stillen kann, da es ihr immer in die Brust beißt, springt Rouzet 17 Jahre nach vorne. Die Familie, zu der jetzt auch eine etwa achtjährige Tochter gehört, zieht in eine ruhige Wohngegend im Vercors.
Hier hoffen die Eltern ein positives Ambiente für den 17-jährigen Philemon zu finden, der das Tageslicht scheut und sich durch Bluttransfusionen von seiner Mutter ernährt. Da diese aber nicht mehr ausreichen, nimmt die Mutter einen Job in einem Blutspendezentrum an und lässt dort unbrauchbare Spenden mitgehen.
Gleichzeitig sucht Philemon aber auch Anschluss an die Jugendlichen der Gegend, verliebt sich auch, doch auch sein Blutdurst nimmt zu und bald nimmt er das Blut nicht mehr durch Infusionen zu sich, sondern trinkt die Beutel. Nur eine Frage der Zeit ist es freilich, bis seine Veranlagung und die Blutdiebstähle der Mutter auffliegen.
Rouzet nutzt das Genre des Vampirfilms, um von Außenseitertum und Sehnsucht nach Dazugehörigkeit, aber auch von Mutterliebe und starkem Familienzusammenhalt zu erzählen. Gleichzeitig ist das konzentriert inszenierte und stark gespielte Drama, das auch durch die souveräne Arbeit mit Montagesequenzen sowie dem Wechsel von unruhiger subjektiver und objektiver Kamera und der atmosphärisch dichten Einbettung der Handlung inm gebirgigen Vercors besticht, aber auch ein Coming-of-Age-Film, der die Veränderungen der Pubertät auf eine vampirische Ebene verschiebt.
Mit den Mitteln des Genrefilms spielt aber auch der Rumäne Andrei Tănase in "Tigru – Day of the Tiger", wenn er die Tierärztin Vera, einen Jäger und Polizisten in den Wäldern um eine rumänische Stadt einen aus dem Zoo entflohenen Tiger jagen lässt. Verpackt in diese Jagd erzählt Tănase von der inneren Entwicklung Veras, die aufgewühlt von der Entdeckung der Untreue ihres Mannes, aber auch erschüttert vom Tod ihres Babys Orientierung finden muss.
Durch kompakte Inszenierung und eine starke Cătălina Moga in der Hauptrolle gelingt eine dichte Charakterstudie, die auch mit satirischer Kritik an der rumänischen Kirche nicht spart, die zwar einem Tier ein feierliches Begräbnis gewährt, sich aber weigert das ungetaufte Baby auf dem Friedhof zu bestatten.
Während diese Filme bei der Preisverleihung leer ausgingen, erhielt mit "The Human Hibernation" der Spanierin Anna Cornudella Castro der sperrigste Film des Wettbewerbs eine Lobende Erwähnung. Allein durch die Pressemitteilung lässt sich hier wohl eine Handlung rekonstruieren, denn Corundella Castro reiht im Grunde ohne sichtlichen Zusammenhang Bilder von Tieren aneinander, zwischen denen dann wieder Aufnahmen von Menschen eingeschnitten sind, die aus Erdlöchern kriechen oder sich aus der Wiese erheben.
Während Letzteres das Erwachen der Menschen aus einem Winterschlag zeigen soll, soll mit der starken Präsenz von Tieren wohl der Primat der Menschheit gebrochen und der Fauna eine gleichberechtigte Stellung eingeräumt werden. Aber so großartig diese Nahaufnahmen von mächtigen Bisons oder Makroaufnahmen von Spinnen und Ameisen sowie zahlreichen weiteren Tieren auch sind, so frustrierend und ermüdend ist diese Abfolge von Szenen auf Dauer doch.
Wenig überraschend ging der Publikumspreis an die schwedische Satire "Hypnosen - The Hypnosis", die mit ihren beiden bestens harmonierenden Hauptdarsteller:innen zeitgeistige Unterhaltung im Stile der Filme von Ruben Östlund bietet. Den Preis für den besten Dokumentarfilm vergab die Jury dagegen an "Fairy Garden", in dem der Ungar Gergő Somogyvári eine Trans-Frau begleitet, die von ihrer Familie ausgestoßen wurde und in einem obdachlosen älteren Mann einen Freund fand.
Spannend ist in Linz aber auch immer das Programm abseits der Wettbewerbe. So zeichnet die niederländische Dokumentarfilmerin Aliona van der Horst, der der heurige Tribute gewidmet war, in ihrem jüngsten Film "Gerlach" das beeindruckende Porträt eines alten Bauern, der ungerührt von Schnellstraßen und einem Betriebsgelände in unmittelbarer Nähe den Getreide- und Gemüseanbau auf seinen Feldern fortsetzt.
Wie dieser Bauer mit seinen schlohweißen Haaren und seinem gebeugten Kopf alles mit einem Lächeln hinnimmt und nie die Ruhe verliert, so vermittelt auch van der Horst in ruhigem Wechsel zwischen von Totalen der Landarbeit und Großaufnahmen des Bauern das Bild eines gelassenen und in sich ruhenden Mannes, der, unterstützt von einem als Anwalt arbeitenden Bruder, unaufgeregt auch den Kampf gegen einen großen Konzern oder die Enteignungspläne der Stadt führt.
Aber auch effektvolles Unterhaltungskino kommt in Linz mit der von Markus Keuschnigg kuratierten Schiene "Nachtsicht" nicht zu kurz. Doch auch bei diesen aktuellen europäischen Horror- und Science-Fiction-Filmen bleibt die Realität nicht ausgespart, wenn Just Philippot in "Acide" von einem säurehaltigen Regen erzählt, der nicht nur Ackerböden vernichtet, sondern auch die Häuser und die menschliche Haut schwer angreift.
Ausgehend von Nachrichten über diese durch den Klimawandel ausgelöste Bedrohung entwickelt Philippot so einen Katastrophenfilm, in dem eine dysfunktionale Familie vor der Bedrohung zu fliehen versucht. Während der Vater aber bei seiner Geliebten in Belgien das Heil suchen möchte, setzt die Ex-Frau eher auf den im Osten Frankreichs lebenden Bruder – und zwischen beiden zerrissen steht die Teenager-Tochter.
Wie in den Katastrophenfilmen von Steven Spielberg und Roland Emmerich wird so das apokalyptische Szenario in eine Familiengeschichte verpackt und in klassischer Manier wechseln auch spektakuläre Actionszenen mit ruhigen Momenten. Doch so formelhaft "Acide" auch ist, in seiner Bildgewalt und seinen mächtigen und bedrohlich schwarzen Wolken, aus denen der tödliche Regen niederprasselt, kann er doch nachhaltig beunruhigen.
Übersicht über die Preisträger:innen finden Sie hier.
Weitere Berichte vom Crossing Europe Film Festival 2024:
- Vorschau
- Zwischenbericht 1 ("Ultima Thule" + "Hotel Pula")
- Zwischenbericht 2 ("Ellbogen" + "Il pleut dans la maison")
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