
Michel Hazanavicius erzählt im Stil eines Märchens vom Schrecken des Holocaust und von Menschlichkeit in Zeiten des Krieges: Ein gerade durch die Verknüpfung der gegensätzlichen Ebenen und seine zarten Bilder zutiefst bewegender Animationsfilm.
Der 1967 geborene Michel Hazanavicius scheint sich mit beinahe jedem Film neu erfinden zu wollen. Nach zwei Agentenkomödien um den Spion OSS 117 (2006 und 2009) gelang ihm 2011 mit dem Stummfilm "The Artist" ein unter anderem mit fünf Oscars ausgezeichneter Welterfolg.
Weniger Erfolg hatte er mit "The Search" (2014), für den er Fred Zinnemanns gleichnamiges Kriegs- und Flüchtlingsdrama vom Zweiten Weltkrieg in die Zeit des Ausbruchs des Zweiten Tschetschenienkriegs im Jahr 1999 verlegte, sowie mit seiner Godard-Hommage "Le redoutable" (2017). Seine Zombiekomödie "Final Cut of the Dead" (2022) durfte 2022 zwar das Filmfestival von Cannes eröffnen, fand darüber hinaus aber kaum Beachtung.
Mit der Verfilmung von Jean-Claude Grumbergs 2019 erschienenem Jugendbuch "Das kostbarste aller Güter" wagt Hazanavicius nun wiederum etwas Neues. Wie schon in "The Search" erzählt der Franzose zwar auch hier von Menschlichkeit in Zeiten des Krieges, bedient sich aber des Animationsfilms und einer märchenhaften Haupthandlung, die in scharfem Kontrast zum erschütternden historischen Hintergrund steht.
Explizit spricht auch der Erzähler, der in den Film einführt, diesen Märchencharakter an, wenn er einen alten - namenlos bleibenden - Holzfäller und dessen Frau als Protagonist:innen und einen winterlich verschneiten Wald als Schauplatz vorstellt. Gleichzeitig fließt mit der zeitlichen und geographischen Verankerung der Geschichte im Polen des Zweiten Weltkriegs von Beginn an aber auch schon die brutale historische Realität in den Film ein.
So sehr auch die Armut des Holzfällerpaares, dessen einziges Kind verstorben ist, ein Märchenmotiv ist, so beklemmend erinnern die immer wieder durch den Wald donnernden Güterzüge an die Deportationszüge der Nazis. Nicht von den Göttern, zu denen die namenlose Frau immer wieder betet, wird ihr bald ein Baby geschenkt, das sie neben den Gleisen findet, sondern – wie man später erfahren wird – von einem der Deportierten, der sein Kind in höchster Verzweiflung aus dem Waggon geworfen hat.
Liebevoll nimmt die Frau das Baby auf, während ihr Mann es zunächst den Behörden übergeben will. Verstößt dieser missmutige Alte zunächst Frau und Kind in den Schuppen, so wird ihn der Herzschlag des Babys aber doch bald rühren. Auch er wird beginnen, sich um den Findling zu kümmern, und wird ihn und seine Frau bis zum Letzten gegen die Dorfbewohner verteidigen, als diese die Auslieferung des Babys fordern.
Der Unmenschlichkeit stellen so Hazanavicius und Grumberg immer wieder Momente der Menschlichkeit und der Hoffnung gegenüber. Gleichzeitig wird die märchenhafte Geschichte durch einen Traum des Holzfällers wiederum historisch verankert.
Denn mit einem Perspektivenwechsel blickt der Film in einen Deportationszug, zeigt das Handeln des Vaters und auch in der Folge gewinnt die historische Komponente an Gewicht, wenn Bomberstaffeln über den Wald fliegen, sowjetische Truppen anrücken und die Lager schließlich befreit werden.
Wie aber nie dezidiert von Juden die Rede ist, die Deportierten "nur" als "Herzlose" und "Gottesmörder" bezeichnet werden und auch ein Judenstern erst spät ins Bild gerückt werden, so können auch die Soldaten nur anhand ihres Sterns als Sowjets identifiziert werden. So bleibt "Das kostbarste aller Güter", dessen liebevolle Machart in jedem Bild spürbar ist, immer im Spannungsfeld von konkretem historischem Geschehen und universeller Fabel.
Auch auf der Bildebene arbeitet Hazanavicius mit diesem Kontrast, wenn er den zarten Bildern des verschneiten Waldes und der in Brauntöne getauchten Hütte die ausgemergelten und bis aufs Skelett abgemagerten Körper der Häftlinge des Vernichtungslagers gegenüberstellt. Den schockierenden und lange nachwirkenden Höhepunkt erreicht der Film dabei in einer Abfolge von schreienden Gesichtern mit kahler Stirn und eingefallenen Wangen.
Erschütternd erinnert Hazanavicius hier an den Schrecken des Holocausts und jeden Kriegs und feiert gleichzeitig die Menschlichkeit und die Liebe, wenn er zeigt, wie die schwache und arme Holzfällerin durch ihren unermüdlichen Einsatz das Überleben des Babys und damit auch eine Zukunft als erfolgreiche Frau ermöglichte.
Das kostbarste aller Güter - La plus précieuse des marchandises
Frankreich / Belgien 2024
Regie: Michel Hazanavicius
Animationsfilm
Länge: 81 min.
Läuft derzeit in den deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Das kostbarste aller Güter - La plus précieuse des marchandises"
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