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AutorenbildWalter Gasperi

Das Lehrerzimmer

Aktualisiert: 23. Sept. 2023


Eine engagierte junge Lehrerin wird an einem Hamburger Gymnasium im Spannungsfeld zwischen Kolleg:innen, Schüler:innen und Eltern sukzessive zerrieben: İlker Çatak inszeniert seinen soeben mit fünf deutschen Filmpreisen ausgezeichneten Schulfilm als dichten Thriller, in dem packend allgemeine gesellschaftliche Themen wie Alltagsrassismus, Mobbing, Vorverurteilung und Wahrheitsfindung verhandelt werden.


Der Schulfilm hat viele Spielarten. Der Bogen spannt sich von rebellischen Werken über Schüler:innen, die gegen ein autoritäres System aufbegehren wie Jean Vigos "Zéro de conduite" (1933) und Lindsay Andersons "If" (1968) über engagierte Lehrerporträts, die sozial schwierigen Schüler:innen, einen Weg in die Zukunft weisen wollen ("Blackboard Jungle – Die Saat der Gewalt", Richard Brooks, 1955), oder deren eigenständiges Denken fördern wollen ("Dead Poets Society – Der Club der toten Dichter", Peter Weir, 1989) bis zur harmlosen Komödie ("Die Feuerzangenbowle", Helmut Weiss, 1944; "Fuck ju Göhte", Bora Dagtekin, 2013).


Quasidokumentarische Schilderungen der Anforderungen, die eine multikulturelle Klasse stellen, fehlen mit Laurent Cantets "Entre les murs - Die Klasse" (2008) ebenso wenig wie zuletzt mit Maria Speths "Herr Bachmann und seine Klasse" (2021) ein großer Dokumentarfilm über die Erfolge, die ein engagierter und empathischer Lehrer durch seine unkonventionellen Methoden in einer heterogenen Klasse erzielen kann.


İlker Çatak legt seinen soeben bei der Verleihung der deutschen Filmpreise unter anderem in den Kategorien bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin ausgezeichneten vierten Spielfilm als Alltags-Thriller an. Von der ersten Einstellung an entwickelt "Das Lehrerzimmer" mit seiner beweglichen Kamera (Judith Kaufmann), die hautnah der jungen Mathematik- und Sportlehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch) vom Lehrerzimmer durch die Gänge in ihre Klasse folgt, sowie einen dynamischen Schnitt (Gesa Jäger) eine Kraft und einen Sog, die ins Geschehen unmittelbar hineinziehen.


Verstärkt wird diese Dichte einerseits durch das enge 4:3 Format, das für eine Fokussierung des Blicks und für große Nähe zur in jeder Szene präsenten Protagonistin sorgt, sowie durch die Konzentration auf die Schule als – mit einer kurzen Ausnahme – einzigen Schauplatz. Aber auch die präzis eingesetzte kalte Musik von Marvin Müller steigert hier immer wieder die Spannung und die Beunruhigung.


Nicht nur über das Privatleben der anderen Lehrer erfährt man nichts, sondern auch über Frau Novak erfährt man einzig, dass sie zwar in Deutschland geboren wurde, ihre Eltern aber aus Polen stammen.


Zur Kompaktheit und Konzentriertheit dieses Dramas trägt aber auch das meisterhaft aufgebaute Drehbuch bei, das Çatak zusammen mit Johannes Duncker schrieb. So wird schon in der ersten Szene, wenn Frau Nowak ihren etwa 13-jährigen Schüler:innen die mathematische Frage stellt, ob 0,9 periodisch das gleiche wie 1 sei, anschaulich der Unterschied von Beweis und Behauptung ins Spiel gebracht, der sich durch den Film zieht.


Denn bald führt eine Diebstahlserie an der Schule, die eine Null-Toleranz-Politik verfolgt, zu Ermittlungen der Lehrer, bei denen Schüler:innen zunächst gedrängt werden, ihren Verdacht zu äußern, und bald auch eine Razzia in der Klasse folgt. Fragen von Druck mittels Abhängigkeitsverhältnissen und von Denunziation werden so ebenso aufgeworfen wie von Vorverurteilung, wenn bald in einem migrantischen Schüler der vermeintlich Schuldige gefunden wird.


Welche Möglichkeiten der Beweisfindung gibt es aber? Ist es legitim, dass Frau Novak im Lehrerzimmer die Kameras ihres Laptops eingeschaltet lässt, um so vielleicht die Diebserie aufzuklären. Die anschließend mit den Aufnahmen konfrontierte Person streitet jedenfalls jede Schuld ab und beschimpft Novak der hinterhältigen Überwachung und Bespitzelung. Zudem sieht man auf dem Video auch keine Person, sondern nur deren Bluse. Ist dies schon ein gültiger Beweis?


Auch ein Referat über die wissenschaftliche Erklärung einer Sonnenfinsternis durch den altgriechischen Philosophen Thales von Milet ist hier kein Beiwerk. Deutlich macht diese Szene nämlich, dass in der Naturwissenschaft die Erklärung des bislang Unerklärlichen den Menschen Ängste nehmen können, dass aber im zwischenmenschlichen Kontakt neben Fakten eben noch andere Komponenten hereinspielen, die Kommunikation und Zusammenarbeit schwierig machen.


Da mag auch eine Schüler:innengruppe im Turnsaal auf einem kleinen Holzkasten durch Zusammenspiel kurz die Balance finden, so zerbricht die gesamte labile Einheit sogleich, als die Aggressionen eines Schülers durchbrechen.


Je mehr Novak, die zudem neu an der Schule ist und sich im Lehrkörper erst einfinden muss, kalmieren will, desto mehr eskaliert die Situation. Bald setzt mit dem Satz "Wie die Mutter, so der Sohn" in der Klasse auch Mobbing gegen den Sohn der von der Lehrerin verdächtigten Diebin ein. Gleichzeitig eckt sie mit ihrem engagierten Eintreten für die Schüler:innen auch bei einigen Lehrer:innen an, aber auch ein Elternabend läuft völlig aus dem Ruder.


Die Schülerzeitung, die sich wiederum das Motto "Veritas omnia vincula vincit" ("Die Wahrheit besiegt alle Fesseln") auf die Fahnen geschrieben hat, veröffentlicht einen Bericht und ein Interview mit Novak, in dem Aussagen aus dem Kontext gerissen werden und Dinge hineininterpretiert werden, die nie gesagt wurden. – Fragen nach der Ethik des Journalismus und nach Fake News und deren Wirkung werden so angesprochen, wenn auch Frau Novaks Klasse nach Erscheinen der Zeitung reagiert.


Nichts wird hier freilich prätentiös ausgewalzt, sondern alles wird, verpackt in die im Grunde kleine Geschichte um die Lehrerin, ebenso trocken wie packend angesprochen. Herz des Films, der auch in den Nebenrollen und vor allem den Schüler:innenrollen perfekt besetzt ist, ist aber Leonie Benesch als Frau Novak. In den Gesten und Blicken der Schauspielerin, die vor 14 Jahren als 17-Jährige in Michael Hanekes "Das weiße Band" (2009) bekannt wurde, spürt man ihr Engagement für die Schüler:innen, aber man wird auch Zeuge, wie sie letztlich auch mit all ihrem Engagement wenig ausrichten kann.


Mit Schreien können Lehrerin und Schüler:innen zwar ihrer Wut und Hilflosigkeit Ausdruck verleihen und sie ablassen, doch weiter kommt man letztlich damit auch nicht: Den Zauberwürfel mag ein Schüler am Ende schnell lösen können, doch zu ihm vorzudringen und eine Öffnung für ein Gespräch zu erreichen, gelingt Frau Novak nicht mehr.


Das Lehrerzimmer Deutschland 2023 Regie: Ilker Çatak mit: Leonie Benesch, Leonard Stettnisch, Eva Löbau, Michael Klammer, Rafael Stachowiak, Anne-Kathrin Gummich, Kathrin Wehlisch Länge: 98 min.



Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn, Kino GUK Feldkirch, Skino Schaan und Kinok St. Gallen.


Trailer zu "Das Lehrerzimmer"



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