Eine junge Frau zieht aus einer WG in eine andere Wohnung, ihre Freundin bleibt zurück. – Die Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher entwickeln keine dramatische Handlung, sondern vertrauen in ihrem ebenso leisen wie beglückenden zweiten Spielfilm auf Blicke, Gesten und kleine Szenen, in denen Sehnsucht und Begehren, Traurigkeit und Aggression sicht- und spürbar werden.
Leer ist der Wohnungsgrundriss, mit dem "Das Mädchen und die Spinne" einsetzt. Nur "Küche, Bad, Zimmer" ist darauf zu lesen, doch langsam wird er sich durch Zeichnungen eines kleinen Mädchens füllen. Als Metapher für den Film kann man diesen Grundriss lesen, denn auch der Film beginnt wie ein leeres Blatt und erst langsam bekommt man tiefere Einblicke in die Charaktere. Das zweite wiederkehrende Bild für eine Tiefenbohrung, die den Blick unter die Oberfläche öffnet, ist ein Presslufthammer, mit dem vor der Wohnung ein Loch in den Asphalt geschremmt wird.
Unvermittelt setzt die Handlung mit dem Einzug Lisas (Liliane Amuat) in ihrer neuen Wohnung ein. Ihre Freundin Mara (Henriette Confurius) ist dabei und mit mit Markus hilft nicht nur ein weiterer Bewohner der WG, sondern auch zwei Handwerker wurden engagiert. Lisas Mutter (Ursina Lardi) schaut ebenso vorbei wie die neue Nachbarin mit ihrer Tochter. Diese Wohnung und später Lisas alte Wohnung sind die einzigen Schauplätze des Films und nur über zwei Tage spannt sich die Handlung. Dem geschäftigen Umzugstreiben steht dabei eine zumeist statische Kamera gegenüber, die sich weniger für diese Aktionen als vielmehr für die emotionale Befindlichkeit der Figuren interessiert
Kaum etwas erfährt man über deren Biographien, ganz im Hier und Jetzt spielt der nach ihrem Debüt "Das merkwürdige Kätzchen" (2013) zweite Spielfilm der Zwillingsbrüder Roman und Silvan Zürcher. Und doch spielen immer wieder kurze Erinnerungen von Lisas Freundin Mara und Lisas Mutter an die Kindheit ihrer Tochter herein. Nichts wird aber besonders betont, wie hingetupft wirken diese kleinen Geschichten, die die Gegenwart unterbrechen, mehr angedeutet als ausformuliert wird in diesem wunderbar offenen Film.
Einst scheinen sich Mara und Lisa sehr nahe gestanden zu sein, doch inzwischen scheint etwas in die Brüche gegangen zu sein. Ein vergangenes Glück evoziert Maras Erinnerung an einen gemeinsamen Radurlaub. Auch wie sie eine Spinne sanft von Lisas Rücken nimmt und auf ihre Hand legt, wobei sich ihre Finger berühren, beschwört einen Moment großer Nähe und Vertrautheit. Während Lisa aber mit dieser Vergangenheit abgeschlossen zu haben scheint, wird Mara mit der Trennung nicht fertig, neigt immer wieder zu Aggressionen, wenn sie bald einem Hund Kaffee über den Rücken schüttet, mit einem Stift ein Loch in einen Trinkbecher bohrt oder eine Fliege erschlägt.
Sehnsucht und Begehren wird aber auch im Blick von Lisas Mutter auf den Handwerker Jurek (André Hennicke) spürbar und gleichzeitig spürt man im Blick von Jureks jungem Mitarbeiter Jan (Flurin Giger) auf Mara sein Interesse an der jungen Frau.
Erweitert wird das Beziehungsgeflecht, wenn der Film in die ehemalige Wohnung Lisas wechselt, in der am Abend eine Abschiedsparty gefeiert wird. Hier kommt auch noch Nora ins Spiel, die tagsüber immer schläft, und auch die Erinnerung an eine ehemalige Mitbewohnerin, die als Zimmermädchen arbeitete, nun aber auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet.
Wie schon ihr Debüt passt auch dieser zweite Spielfilm der Zürchers, der den Mittelteil einer Tier-Trilogie bildet, die mit "Der Spatz im Kamin" abgeschlossen werden soll, in kein Schema. In der Leichtigkeit, den jungen Protagonist*innen und den Dialogen erinnert er an die Filme Éric Rohmers, in der Verknappung an Angela Schanelec, die die Brüder als Vorbilder nennen.
Minimalistisch gehalten ist die Handlung, im Zentrum stehen die Blicke und Gesten. Nichts Dramatisches passiert zwar äußerlich, aber durch den genauen Blick auf die Figuren, die von einem gerade durch seine Zurückhaltung bestechenden Ensemble gespielt werden, lassen die Zürchers spüren, wie es unter der ruhigen Oberfläche emotional brodelt.
Federleicht fügen sich nicht nur diese Blickszenen aneinander, sondern dazwischen spielen immer auch wieder Tiere von der titelgebenden Spinne über zwei Hunde und die Katze eines Nachbarn, die gefüttert werden muss, bis hin zu einem Käuzchen, das nachts auf einem Baum vor der WG sitzt, herein. Gewicht haben hier aber auch Gegenstände. Da hört man immer wieder eine nicht ganz geschlossene Thermoskanne pfeifen oder es geht um den Staubsauger, dessen Kabel der Hund angeknabbert hat, Schuhe quietschen auf dem Boden und ein defektes Fenster schlägt laut zu. Verweisen die defekten Dinge auf die emotionalen Risse der Figuren?
Auf einen einfachen Nenner und richtig fassen, lässt sich "Das Mädchen und die Spinne" nicht. Aber gerade wie dieser Film in der Schwebe bleibt zwischen Alltagsschilderung und Erinnerungen, auch ein Traumbild einfließen lässt und wie von Eugen Dogas melancholischem Walzer "Grammofon" unterlegte Montagesequenzen mit einer Abfolge der Menschen und Objekte eingeschnitten werden, macht diese ebenso leise wie zarte Perle, die bei der heurigen Online-Berlinale in dem für ästhetisch innovative Produktionen vorgesehenen Parallelwettbewerb "Encounters" mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, so beglückend.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino in Schaan.
Trailer zu "Das Mädchen und die Spinne"
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