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AutorenbildWalter Gasperi

Das zweite Gleis


In der DDR der frühen 1960er Jahre wird ein Fahrdienstleiter von seiner Vergangenheit eingeholt. – Joachim Kunert gelang 1962 eine visuell und akustisch starke und packend erzählte, aber weitgehend vergessene Perle des DEFA-Films, die Icestorm nun als DVD wieder publik macht.


In langer Parallelfahrt folgt die Kamera Fahrdienstleiter Walter Brock (Albert Hetterle) über das Gelände des Rangierbahnhofs, auf dem er arbeitet. Fröhliche Musik begleitet die Szene, auch der Smalltalk mit diversen Kollegen, dennen Brock begegnet, evoziert eine entspannte Atmosphäre. Doch dann ertappt Brock zwei Bahnangestellte beim Diebstahl von Ladegut aus einem Waggon. Sofort meldet er den Vorfall, das Gelände wird abgesperrt und alle anwesenden Personen werden Brock zur Identifizierung gegenübergestellt.


Kurz glaubt er in einem der Männer einen Täter erkannt zu haben, gibt dann aber vor, sich getäuscht zu haben, während der Vorgeführte (Walter Richter-Reinick) seinerseits in Brock, jemanden zu erkennen glaubt, ihn aber nicht einordnen kann. Deshalb schickt er seinen jungen Helfer (Horst Jonischkan) bei den Diebestouren aus, um sich an Brocks Tochter (Annekathrin Bürger) heranzumachen und so mehr über dessen Herkunft und Biographie zu erfahren.


Mehr sollte hier nicht verraten werden, denn diese Recherche und die Aufdeckung der Hintergründe sind das Herz des Films, gesprochen werden aber muss über die formale Gestaltung. So unmittelbar der Film einsetzt, so stringent und kompakt ist seine Erzählweise. Vom Ende her gesehen mag nicht einsichtig sein, wieso der Räuber Näheres über Brock erfahren will, doch formal ist das aufregend und innovativ gestaltet.


Die eindrückliche Schwarzweißfotografie von Rolf Sohre wird noch durch expressive Bildsprache gesteigert. Extreme Detailaufnahmen von Augenpartien lenken hier ebenso den Blick wie eine schnelle Abfolge von Großaufnahmen des Täters und Brocks. Immer wieder akzentuieren extreme Untersichten die Handlung und dazu kommt der Soundtrack von Pavel Simai, der durch die Mischung von Harfentönen und kalten metallischen Klängen Verunsicherung erzeugt und die zunehmende Anspannung Brocks nach außen kehrt.


Offensichtlich ist, dass diese verdrängten Ereignisse mit der NS-Zeit zu tun haben müssen. Wie Joachim Kunert aber diese langsam aufdeckt, ist dennoch ungemein spannend. Aus einem engen Rahmen heraus entwickelt er so ein packendes Drama um Schuld und Verdrängung sowie die Schwierigkeit, sich dieser Schuld zu stellen. Die Schienenstränge und Stromleitungen, die immer wieder ins Bild gerückt werden, verweisen dabei, wie schon zeitgenössische Kritiken feststellten, immer wieder auf das Thema der Verstrickung in Schuld.


Gleichzeitig stellt Kunert aber auch einer Elterngeneration von Tätern eine junge Generation gegenüber, die eine Zukunft und einen anderen – einen sozialistischen – Weg verkörpert. Aber auch der Elterngeneration gesteht er die Chance einer Wandlung zu.


An Sprachversionen bietet die bei Icestorm erschienene DVD die deutsche Originalfassung, zu der englische Untertitel zugeschaltet werden können. Die Extras umfassen den 15-minütigen Trickfilm „Angst“, der in poetischer Form vom Antisemitismus und Terror des NS-Regimes erzählt, sowie Trailer zu weiteren Filmen dieses Labels.

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