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AutorenbildWalter Gasperi

Diagonale ´23: Wiener Wohnutopie, menschliche Grausamkeit und Eintauchen in die Naturgeschichte


Schwer zu ertragen sind die menschlichen Grausamkeiten, die Selma Deborac in ihrem minimalistischen "De Facto" zwei Schauspieler in Monologen schildern lässt. Joerg Burger bietet dagegen in "Archiv der Zukunft" vielfältige Einblicke in die Bedeutung des Wiener Naturhistorischen Museums und Bianca Gleissinger zeichnet in "27 Storeys" ein liebevoll-wehmütiges Porträt der Wiener Wohnanlage Alterlaa.


Im Grunde kein Dokumentarfilm ist Selma Deboracs "De Facto", denn das Setting ist akribisch inszeniert und zwei Schauspieler sprechen Texte, deren Herkunft auch im Nachspann nicht preisgegeben wird. Nie treten die beiden Schauspieler Christoph Bach und Cornelius Obonya auch in Interaktion, sondern durch lange Schwarzblenden getrennt, halten sie jeweils in mehrminütigen statischen halbnahen und halbtotalen Einstellungen ihre Monologe.


In atemlos-schnellem Redefluss und völlig emotionslos berichtet hier Bach als Ich-Erzähler von Demütigungen und Erniedrigungen in Lagern, von Massenerschießungen, Vergewaltigungen und weiteren bestialischen Taten, deren Augenzeuge er war, aber an denen er sich nie beteiligt haben will. Dem Ich Bachs steht das Du Obonyas gegenüber, der sich dabei sowohl an Bach als auch ans Publikum richten kann.


Schwer zu ertragen sind die Schilderungen, die auch in der Emotionslosigkeit des Vortrags von Entmenschlichung künden und denen gleichzeitig mit Blick durch ein Fenster in wuchernd grüne Natur und Vogelgezwitscher eine Idylle gegenübergestellt wird.


Im Verzicht auf jede historische Einordnung dieser sorgfältig kompilierten Texte, die aus dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ebenso stammen können wie aus dem Abu Ghraib-Prozess, wirft "De Facto" grundsätzliche Fragen nach dem Bösen im Menschen auf. Gleichzeitig thematisiert dieser ebenso minimalistische wie schockierende Film im selbst auferlegten Bildverbot, das ihn in die Nachfolge von Alain Resnais´ "Nacht und Nebel" und Claude Lanzmanns "Shoah" rückt, auch die Frage nach dem filmischen Umgang und der Darstellung solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


Leichtere Kost bietet "Archiv der Zukunft", in dem sich Joerg Burger dem Wiener Naturhistorischen Museums widmet. Wie ein Gegenstück zu Johannes Holzhausens "Das große Museum" betiteltem Dokumentarfilm über das gegenüberliegende Kunsthistorische Museum wirkt Burgers Film, denn wie Holzhausen bietet auch Burger in einer Fülle von Szenen Einblick in die vielfältigen Aufgaben und die Bedeutung dieses Museums.


Administrative Aspekte bleiben dabei aber ausgespart, der Fokus liegt auf der Konservierung, Restaurierung und Forschung. Wie sich der Aufbau eines Dinosaurier-Skeletts von einem kleinen Metall-Modell zum fertigen Exponat durch den Film zieht, reiht Burger puzzleartig Teile aneinander. In geduldigem Blick schaut er zu, wie das Gefieder eines Papageis gepflegt und fotografiert wird, wie im Hof eine frühzeitliche Verbrennung eines Schweins auf einem Scheiterhaufen nachgestellt und akribisch dokumentiert wird oder wie die Venus von Willendorf mit einem Scanner durchleuchtet wird, um neue Erkenntnisse über die Herkunft des Gesteins zu bekommen.


Aber auch die Rückführung von im 19. Jahrhundert nach Wien gebrachten Maori-Skeletten nach Neuseeland oder die Vermessung von Juden während des Nationalsozialismus wird thematisiert. In der Fülle der Szenen ergibt sich so nicht nur ein eindrückliches Bild der Bedeutung dieses Museums als Ort des Sammelns und Bewahrens des Historischen, sondern es wird auch immer wieder gezeigt, wie historische Erkenntnisse über Klimaveränderung oder Artensterben benützt werden für Prognosen zu zukünftigen Entwicklungen.


Dem neugierig-erkundenden Blick Burgers steht das Eintauchen Bianca Gleissingers in ihre persönliche Geschichte gegenüber, wenn sie in "27 Storeys" in die Wiener Wohnanlage Alterlaa, in der sie in der 1990er Jahren bis zu ihrem siebten Lebensjahr ihre Kindheit verbrachte, zurückkehrt. Der Titel bezieht sich auf die 27 Stöcke des höchsten Gebäudes dieser Anlage, die Anfang der 1970er Jahre in Anlehnung an Projekte Le Corbusiers vom Architekten Harry Glück als "Glück(s)bau-Utopie" mit "Pools für Proleten" geplant wurde.


Im Stil eines Michael Moore bringt sich Gleissinger immer wieder selbst ins Spiel. Sie besucht heutige Bewohner:innen, die mit der Anlage, die 240.000m² und 3200 Wohnungen eine Stadt innerhalb der Stadt darstellt, alt geworden sind, bietet in Home-Movies Einblick in ihre Kindheit und mit Spots vom Bau Einblick in die Baugeschichte.


Mit Witz und Wehmut arbeitet Gleissinger so einerseits ihre Kindheit auf, präsentiert aber andererseits auch eine Anlage, die mit ihren großen Grünflächen, ihrer vielfältigen Infrastruktur und rund 30 verschiedenen Clubs vom Modellbauclub über Foto- und Videoclub, Tanzsportclub und Töpferverein bis zu einem umfangreichen Freddy-Quinn-Archiv, so gar nichts mit üblichen Vorstellungen von sozialem Wohnbau zu tun hat.


Eindrucksvoll rückt sie auch immer wieder den prächtigen Pool auf der Dachterrasse oder die von Balkons bestimmten mächtigen Fassaden ins Bild, macht aber auch den Wandel der Zeiten deutlich, wenn die älteren Bewohner:innen feststellen, dass die jüngeren nur zum Schlafen herkommen, aber es kaum mehr Interesse an Clubs gibt und viele in Alterlaa inzwischen auch das größte Altersheim Österreichs sehen.


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