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AutorenbildWalter Gasperi

Die Filme des Jahres 2023

TAR (Todd Field)

Ein starkes Filmjahr geht zu Ende. Alte Meister legten nochmals große Filme vor, aber auch zahlreiche Entdeckungen konnte man machen: Eine subjektive Liste der Top 30.

 

Schon zum letzten Jahreswechsel sorgte Felix van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs sich über 30 Jahre spannende Freundschaftsgeschichte "Le otto montagne – Acht Berge" für ein großes Filmerlebnis, während Wim Wenders zum heurigen Jahresende mit seinem wunderbar einfachen "Perfect Days" begeisterte. Aki Kaurismäki präsentierte sich mit "Fallen Leaves" auf der Höhe seiner Kunst, während Christian Petzold bei "Roter Himmel" mit seiner Leichtigkeit überraschte. Von der bittersüßen Liebesgeschichte "Past Lives" über die großartige Vater-Tochter-Geschichte "Aftersun" bis zum brillant konstruierten und vielschichtigen Gerichtsdrama "Anatomie d´une chute" spannte sich der Bogen und dennoch hinterließ vielleicht doch Todd Fields fulminanter "TAR" schlussendlich den stärksten Eindruck.

 

1. TAR: Mit einer herausragenden Cate Blanchett in der Rolle einer Dirigentin entwickelt Todd Field ein faszinierend ambivalentes Charakterporträt und thematisiert gleichzeitig am Beispiel der Branche der klassischen Musik eindrücklich Machtstrukturen und Machtmissbrauch, aber auch die Macht sozialer Medien.

2. Anatomie d´une chute – Anatomie eines Falls: Justine Triet verbindet in ihrem brillant konstruierten vierten Spielfilm einen hochspannenden Gerichtskrimi mit einem Ehedrama und einer Reflexion über die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit in einem Gerichtsfall zur Wahrheit vorzudringen.

3. Fallen Leaves – Fallende Blätter: Aki Kaurismäkis Tragikomödie um zwei Underdogs, die die Liebe finden, ist ein meisterhaft verdichtetes, lakonisch trockenes und von grenzenloser Liebe zu den gebeutelten Protagonisten und dem Kino durchzogenes Juwel.

4. Aftersun: Der vielleicht letzte gemeinsame Urlaub von Vater und elfjähriger Tochter in einem Ferienclub an der türkischen Riviera: Charlotte Wells entwickelt in ihrem Spielfilmdebüt aus einem Nichts an äußerer Handlung, eingebettet in die meisterhaft beschworene Urlaubsstimmung, ein Maximum an feinfühliger und bewegender Figurenzeichnung.

5. Perfect Days: So einfach wie kunstvoll und beglückend: Wim Wenders folgt den Alltagsroutinen eines Toilettenreinigers in Tokio.

 

6. Close: Lukas Dhonts von famosen Kinderdarstellern getragenes Drama über eine Jungenfreundschaft, über Nähe und die tragischen Folgen einer Zurückweisung.

7. Das Lehrerzimmer: Ein Schulfilm um eine junge Lehrerin als Thriller, in dem allgemeine gesellschaftliche Themen wie Alltagsrassismus, Mobbing, Vorverurteilung und Wahrheitsfindung verhandelt werden.

8. Past Lives: Celine Song erzählt in ihrem autobiographisch inspirierten Debüt zartbitter und sehr feinfühlig von einer Kinderfreundschaft, von Emigration und dem Leben, das man zurücklässt, um ein neues zu beginnen.

9. Le Bleu du Caftan: Maryam Touzani erzählt behutsam und mit größtem Feingefühl unaufgeregt, aber dank herausragenden Schauspieler:innen und des genauen Blicks intensiv und sehr sinnlich von unterdrückten Gefühlen und einer langsamen Öffnung.

10. Tori te Lokita: Mit der Geschichte zweier junger afrikanischer Flüchtlinge, die versuchen sich in Belgien durchzuschlagen, gelang Jean-Pierre und Luc Dardenne ein weiteres Meisterwerk des sozialrealistischen Kinos.

 

11. Pacifiction: Betörend schön, rätselhaft und sehr langsam: Der Katalane Albert Serra folgt einem französischen Beamten 162 Minuten durch Tahiti bei seinen Recherchen über Gerüchte zu bevorstehenden Atombomben-Tests.

12. Roter Himmel: Christian Petzold entwickelt in und um ein Ferienhaus an der deutschen Ostseeküste vor dem Hintergrund eines nahenden Waldbrands ein ebenso leichtfüßiges wie dichtes Beziehungsdrama, das von einem großartigen Ensemble getragen wird.

13. La chimera: Alice Rohrwachers Spielfilm über eine Gruppe von Grabräubern in Etrurien ist in seiner verspielt-poetischen Erzählweise, in seinem visuellen und erzählerischen Einfallsreichtum ein ziemlich einzigartiger Film.

14. Return to Seoul: Mit viel Feingefühl und großer Eleganz erzählt Davy Chou, unterstützt von einem großartigen Ensemble, bewegend von der Suche nach den biologischen Wurzeln und von Zerrissenheit zwischen Kulturen und Identitäten.

 15. Le otto montagne – Acht Berge: Anhand einer sich über 30 Jahre spannenden Männerfreundschaft erzählen Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch vor prächtigem Berghintergrund bildmächtig von unterschiedlichen Lebensentwürfen und der Suche nach Selbstfindung.


16. R.M.N.: Cristian Mungiu zeichnet in seinem atmosphärisch dichten und konzentrierten Drama ein bedrückendes Bild der rumänischen Gesellschaft.

17. Saint Omer: Alice Diops Spielfilmdebüt ist ein spartanisch inszeniertes, aber konzentriertes und fesselndes Gerichtsdrama, das Fragen der Differenz zwischen Kulturen und Geschlechtern, Migration, Erwartungsdruck und Rassismus thematisiert.

18. Decision to Leave – Die Frau im Nebel: Formvollendeter und wendungsreicher Mix aus Film noir und melancholischer Liebesgeschichte von Park Chan-wook.

19. Totem: Der Mexikanerin Lila Aviles gelang mit ihrem zweiten Spielfilm ein durch räumliche und zeitliche Einheit dichtes Kammerspiel, das das Leben vor dem Hintergrund des nahen Todes feiert und die Schwierigkeit des Loslassens vermittelt.

20. Fremont: Babak Jalalis von lakonischem Humor durchzogenes an Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki erinnerndes leises und warmherziges Kleinod über eine Afghanin, die sich in Kalifornien einsam und verloren fühlt.


21. How to Have Sex: Molly Manning Walker zeichnet in ihrem Langfilmdebüt ein mitreißendes Porträt einer Generation und lotet hinter der Genusssucht die Lust nach echten Gefühlen ebenso wie Gruppendruck und die teils fließenden Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Übergriffigkeit aus.

22. Killers of the Flower Moon: Martin Scorseses episches Krimidrama über eine Mordserie an den indigenen Osage in den 1920er Jahren ist eine ruhig erzählte, aber bittere Abrechnung mit der Habgier und Heuchelei der weißen Täter.

23. L´amour du monde – Sehnsucht eines Sommers: Jenna Hasses atmosphärisch dichtes Langfilmdebüt über eine durch den Sommer am Genfer See driftende 14-Jährige besticht durch Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen.

24. Les cinque diables: Vielschichtiger Genre-Hybrid, in dem Léa Mysius Mystery-Elemente mit Liebes- und Familienfilm zu perfekt konstruiertem, aufregendem und modernem Kino verbindet.

25. Les Pires – The Worst Ones: Sozialdrama über prekäre Lebensbedingungen in einer französischen Vorstadt, in dem Lise Akoka und Romane Gueret aber auch über die Produktion eines solchen Films, den Umgang mit jungen Laiendarsteller:innen und die Repräsentation des sozialen Raums reflektieren.


25. Beau is Afraid: Ari Aster schickt Joaquin Phoenix als paranoiden, an einem Mutterkomplex leidenden Endvierziger auf eine an Einfallsreichtum und Bildmacht überbordende, fast dreistündige kafkaeske Odyssee.

26. Anselm - Das Rauschen der Zeit: Mit fantastischen 3-D-Bildern lässt Wim Wenders in das Werk des Künstlers Anselm Kiefer eintauchen, spart aber auch dessen künstlerische Entwicklung nicht aus

27. Disco Boy: Fragmentiert und extrem verdichtet erzählt Giacomo Abbruzzese in seinem Spielfilmdebüt parallel von einem Belarussen, der in der Fremdenlegion eine neue Identität und Heimat sucht, und einem Nigerianer, der für die Freiheit seines Landes kämpft

28. Living: Feinfühliges, tief bewegendes Remake von Akira Kurosawas "Ikiru - Einmal wirklich leben", das einem überragenden Bill Nighby die Rolle seines Lebens bietet.

29. The Banshees of Inisherin: Ein perfekt aufgebautes Drehbuch, markante Figurenzeichnung und großartige Schauspieler:innen sowie eine kleine irische Insel als Setting sorgen in Martin McDonaghs schwarzhumoriger Tragikomödie für perfekte Kinounterhaltung.

30. About Dry Grasses: In getragenem Rhythmus und bestechender Bildsprache durchleuchtet der türkische Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan in langen, aber messerscharfen Dialogen die Charaktere der Protagonist:innen und ihre Widersprüchlichkeiten.


 

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