In Bildern von überwältigender Schönheit und dichter Handlungsführung erzählt Florence Miailhe anhand des Schicksals zweier Kinder vom Flüchtlingselend: Ein eindrücklicher und bewegender Animationsfilm, der gerade durch die Anonymisierung der Ereignisse zeitlosen und universellen Charakter erhält.
Retrospektiv erzählt die 13-jährige Kyona ihre Geschichte. Unsichtbar bleibt sie als ältere Frau, führt allein mit ihrer Stimme durch ihr Zimmer, spricht über ihre Leidenschaft fürs Zeichnen und lässt mit einem Blick auf die schwarzweißen Zeichnungen in einem Skizzenbuch die Handlung einsetzen.
In ein fiktives Land führt der Film, an Osteuropa lässt der Dorfname Novi Varna denken, doch auch skandinavische Elemente finden sich später mit einer Figur namens Skanderberg. Geographisch und zeitlich wird die Geschichte so anonymisiert und erhält universellen und zeitlosen Charakter.
Allen Flüchtlingen hat die 1956 geborene Florence Miailhe ihren ersten langen Animationsfilm, der wie ihre Kurzfilme in Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Marie Desplechin entstand, gewidmet. Vom Tod des kleinen syrischen Jungen Alan Kurdi, der 2015 ertrunken am türkischen Strand aufgefunden wurde, ließ sich die Französsin ebenso inspirieren wie von der Geschichte ihrer Urgroßeltern, die 1905 vor antisemitischen Pogromen aus Odessa flohen.
An solche Pogrome erinnert auch, wenn Kyona und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Adriel vom Wald aus ihr Dorf in Flammen aufgehen sehen und dann bei der Rückkehr Zeuge der Schikanierung ihres Vaters werden. Nur die Flucht bleibt der Familie, doch als die Geschwister bei einer Zugkontrolle von ihren Eltern getrennt werden, müssen sie sich allein durchschlagen.
Der Vater hat mit dem jenseits der Grenze gelegenen Dorf des Onkels ein Ziel vorgegeben, doch Kyona und Adriel geraten zuerst unter Straßenkinder, werden dann an ein Ehepaar verkauft, das sie regelrecht zurichten und ihnen jede Identität rauben will. Bei der Flucht in den Wald verlieren sich die Geschwister aus den Augen, finden sich aber in einem Wanderzirkus wieder, werden aber bald wieder von Soldaten ergriffen und in ein Lager verschleppt.
Nicht nur holzschnittartig würde diese Geschichte in naturalistischer Darstellung aufgrund der Handlungsdichte wirken, sondern rasch würde aufgrund der Gräuel auch das Gefühl von Gewaltpornographie aufkommen. Mühelos umgeht Miailhe aber diese Gefahr, indem sie nicht auf fotorealistische Computeranimation setzt, sondern mit auf Glas gemalten Ölbildern arbeitet. Mehr angedeutet als konkret ausformuliert werden so nicht nur der Hintergrund, sondern auch die Figuren sind einfach gezeichnet, gleichwohl bewegt ihr Schicksal.
Dem Schrecken von Terror und Flucht, Gewalt und Menschenverachtung der Militärs, aber auch den Gefahren einer Flucht per Boot oder eines Schneesturms, die in düsteren Bildern, die immer wieder übermalt werden, steht dabei die leuchtend gelbe, blaue und rote Kleidung der beiden Protagonist*innen gegenüber. Trotz allem Schrecken gibt es so immer wieder Licht- und Hoffnungspunkte in diesem im Grunde erschütternden Film. Und Hoffnung macht auch der Überlebenswille Kyonas, für die der Regisseurin ihre Mutter als Vorbild diente, die begeisterte Zeichnerin war und wie Kyona ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs in einem Skizzenbuch festhielt.
Nichts wird hier beschönigt und die schonungslose Schilderung unterschiedlichster Folgen der Flucht von Gewalt über sexuellen Übergriff bis zu Verrat bleiben haften, aber gleichzeitig wird diesem Schrecken durch die großartige künstlerische Gestaltung eine Poesie gegenübergestellt, die stärker zu sein scheint als alle Gewalt. Fließend geht dabei Realismus in Märchenhaftes über, wenn auf einen Erschossenen Schneeflocken fallen, wenn die Natur in kräftigen Farben wuchert und leuchtet oder Verfolger gebremst werden, indem ein Käfig mit bunten Vögeln geöffnet wird, oder wenn sich Kyona und Adriel wie "Hänsel und Gretel" im Wald verlaufen und Kyona von einer guten Fee gerettet wird.
Gerade aus dem Widerspruch von schrecklicher Geschichte und begeisternder visueller Gestaltung entwickelt dieser Animationsfilm, dessen Finanzierung von der ersten Idee 2006 bis zur Umsetzung sich über zehn Jahre hinzog, seine mitreißende Kraft: Zeitlos macht die Überhöhung durch Animation diesen Film, der in seinem Detailreichtum und seiner Fülle mehrmaliges Sehen lohnt, gleichzeitig ist er aber mit der Flüchtlingsgeschichte auch am Puls der Zeit und brennt sich nachdrücklich ins Gedächtnis ein.
Die Odyssee (La traverse) Frankreich / Tschechien / Deutschland 2020 Regie: Florence Miailhe Animationsfilm Länge: 84 min.
TaSKino Feldkirch im Kino Rio: Do 19.5., 20.30 Uhr + Fr 20.5., 22 Uhr Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Mi 25.5., 20 Uhr
Trailer zu "Die Odyssee - La traversée"
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