Fragmentiert und extrem verdichtet erzählt Giacomo Abbruzzese in seinem Spielfilmdebüt parallel von einem Belarussen, der in der Fremdenlegion eine neue Identität und Heimat sucht, und einem Nigerianer, der für die Freiheit seines Landes kämpft: Intensives Körperkino, das durch aufregende Bild- und Tonsprache sowie einen großartigen Franz Rogowski in der Hauptrolle suggestive Kraft entwickelt.
Langsam gleitet die Kamera zu Dschungelgeräuschen über eine Gruppe Afrikaner, die eng nebeneinander mit nacktem Oberkörper schlafend in einer offenen Hütte liegt. Großaufnahmen des Gesichts der jungen Udoka und ihres Bruders Jomo (Morr Ndiaye) folgen. Auffallend sind ihre unterschiedlichen Augen, mit denen sie direkt in die Kamera blicken. – Der Blick in die Kamera zieht sich durch den Film, wirft die Frage nach dem Blick auf die Welt und die Wahrnehmung auf.
Abrupt wechselt Giacomo Abbruzzese mit einem Schnitt zu einem Bus mit weißrussischen Fußballfans, die unterwegs zu einem Spiel nach Polen sind. Doch Aleksei (Franz Rogowski) und sein Freund Mikhail interessiert Fußball kaum. Vielmehr wollen sie nach Frankreich flüchten, wo sie ein neues Leben beginnen wollen. Doch bei einer Flussdurchquerung kommt Mikhail ums Leben und Alexej ist auf sich allein gestellt.
Wie mit den ersten Szenen der Gegensatz von Afrika und Osteuropa aufeinandertrifft, so spielt Abbruzzese auch mit dem Kontrast von Osteuropa und dem Sehnsuchtsland Frankreich. Mit dem wiederkehrenden Bild von Flüssen – der Oder in Europa, der Seine in Paris und dem Niger in Afrika – wird dabei das Thema der Grenze und der Grenzüberschreitung auf die Bildebene übertragen, bald kommt aber auch noch die Grenze zwischen Leben und Tod dazu.
Die Fremdenlegion verspricht Alexej in Frankreich eine neue Identität und ein neues Leben zu bieten. Was vorher war, zählt nicht mehr, sondern nur, was man noch vollbringt. Auf den Punkt gebracht wird das mit der Aufschrift auf einer Kasernenwand: Nicht das empfangene Blut, sondern das vergossene ist wichtig. Nach fünf Jahren kann man dafür einen französischen Pass erhalten.
Intensives Körperkino, das unweigerlich an Claire Denis´ Fremdenlegionsfilm "Beau Travail" erinnert, bietet die harte Ausbildung mit militärischem Drill, Klimmzügen, Robben und Waldläufen. Im Kontrast dazu steht der Kampf von Jomo und seinen Männern im Dschungel von Nigeria für die Freiheit seiner Heimat und gegen internationale Ölkonzerne, die den afrikanischen Staat ausbeuten und ein verwüstetes Land zurücklassen.
Wiederum treffen Gegensätze aufeinander, wenn eine modisch gekleidete und geschminkte US-Journalistin die Guerilla-Truppe interviewen will. Statt zu kommunizieren reagieren die Kämpfer nur mit Schüssen in die Luft.
Die Entführung von französischen Staatsbürgern durch die Guerillakämpfer bringt die Fremdenlegion ins Spiel. An Computerspiele erinnert der mit Wärmebildkameras gefilmte Kampf. Der Dunkelheit stehen die rot leuchtenden Köpfe und das mal orange, mal blaue Mündungsfeuer der Maschinenpistolen gegenüber. Gleichzeitig stehen diesen irrealen und künstlichen Bildern wiederum dokumentarische Flugaufnahmen, der durch die Ölgewinnung verwüsteten Region und riesiger Raffinerien im Hintergrund gegenüber. Aber auch der Kontrast von unberührtem grünem Dschungel und den Folgen des barbarischen menschlichen Eingriffs in die Natur wird hier sichtbar.
Direkt aufeinandertreffen werden hier Alexej und Jomo und nach der Rückkehr nach Frankreich wird Alexej ein anderer sein, wird im Traum von Jomo verfolgt, der eigentlich davon träumte Disco-Tänzer zu werden. Die Fremdenlegion selbst wird Alexej fremd werden.
Nicht mitsingen will er, wenn die Truppe Édith Piafs "Non je ne regrette rien" singt, denn im Gegensatz zu den anderen vergisst er nichts und bedauert sehr wohl seine Tat: Eine Absage erteilt er damit dem französischen Selbstverständnis und dem Militarismus und wird die Konsequenzen ziehen.
Ein weiterer Gegensatz wird aufgebaut, wenn dem Krieg in Afrika am Ende das Pariser Nachtleben gegenübersteht. In dieses wird sich Alexej stürzen, wird quasi die Rolle Jomos übernehmen und wird auch in der Schwester des Guerillakämpfers, die als Illegale in einem Nachtclub als Tänzerin arbeitet, eine Seelenverwandte finden: Beide sind aus anderen Welten nach Frankreich gekommen, heimisch sind sie dort aber nie geworden.
Nicht nur die Fremdenlegion als Schauplatz, sondern auch die sehr fragmentierte Erzählweise und auch die Thematisierung von Fremdheit verbinden "Disco Boy" mit Claire Denis´ "Beau Travail". Suggestive Kraft entwickelt dieses Spielfilmdebüt dabei durch die Kameraarbeit von Hélène Louvart und den pulsierenden Soundtrack des Elektromusikers Vitalic.
Durch das Aufeinanderprallen von Gegensätzen, aber auch durch den Wechsel von Realismus und magisch-traumhaften Szenen sowie das intensive Spiel von Franz Rogowski überträgt sich das Gefühl der Fremdheit direkt auf die Zuschauer:innen. Die Zerrissenheit des Films korrespondiert dabei auch mit der Zerrissenheit der Figuren, macht ihre Sehnsüchte erfahrbar.
Nichts wird hier erklärt und in der verdichteten Erzählweise wird nichts ausformuliert, aber aufregend ist dieser Film in seinem Mut zu einer ganz eigenen Filmsprache und in der Thematisierung gesellschaftlicher Spannungsfelder ebenso wie in der Frage des Identitätsverlusts und der Sehnsucht nach neuer Identität, Heimat und einem festen Platz im Leben.
Disco Boy Frankreich / Italien / Belgien / Polen 2023 Regie: Giacomo Abbruzzese mit: Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laëtitia Ky, Leon Lučev, Matteo Olivetti, Robert Więckiewicz, Michał Balici, Wahab Oladiti, Salem Kisita Länge: 92 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Disco Boy"
Comentários