Die Schweizer Oscar-Einreichung ist ein Heimatfilm ohne Kitsch. Authentisch und behutsam erzählt Michael Koch mit Laiendarsteller*innen, großartig eingebettet in ein wortkarges Bauernmilieu, eine bewegende Geschichte von Liebe und Tod.
Am Beginn steht der lange Blick auf einen Felsblock auf einer Bergwiese. Am Bildrand sieht man an der anderen Talseite einen Motorradfahrer die Passstraße hochrasen. Zu diesem Bild hört man einen Chor ein schwermütiges Lied singen.
Mehrfach wird dieser Chor, der in der Folge dann auch im Bild präsent ist, mit seinen Liedern den Film strukturieren und Pausen setzen. Wie der Chor in der griechischen Tragödie wird er auch die Handlung kommentieren und die Tragik der Ereignisse mit Liedern wie "Oh weh, ich muss Abschied nehmen" oder "Komm, süßer Tod" steigern und verdichten.
Und dabei beginnt es so glücklich: Innig lieben sich der Bauerngehilfe Marco (Simon Wisler) und die Kellnerin und Briefträgerin Anna (Michèle Brand). Ihre etwa fünfjährige Tochter Julia aus einer früheren Beziehung nimmt Marco ganz selbstverständlich an und auch das Mädchen sieht in Marco ihren Vater. Keine großen Liebesszenen gibt es zwischen Marco und Anna, doch man spürt in ihren Berührungen und ihren Blicken die tiefe Liebe.
Keine Rolle spielt hier, dass sie eher klein und filigran wirkt, er dagegen ein Berg von einem Mann mit mächtigen Oberarmen und Schultern ist. Dass die Dorfbevölkerung sich abfällig über Marco äußert, weil er aus dem Flachland kommt, kann die Beziehung ebenso wenig trüben wie die Kommentare zu Annas unehelichem Kind und ihrer Liebe zu dem Außenseiter.
Als sie heiraten, scheint das Glück vollkommen, doch dann klagt Marco zunehmend über Kopfschmerzen. Arzt will er aber keinen aufsuchen. Erst als er mit seinem Motorrad verunfallt, wird er untersucht. Positiv gestimmt verkündet der Arzt, dass keine Unfallverletzungen festzustellen seien, weist aber auf ein Gewächs im Gehirn hin, das rasch operiert werden müsse.
Nach der Operation kehrt Marco ins Bergdorf zurück, doch es machen sich zunehmend Persönlichkeitsveränderungen bei ihm bemerkbar. Die Beziehung scheint darüber zu zerbrechen, doch als es Marco schlechter geht, hält Anna dennoch zu ihm.
So bedächtig und wortkarg die durchwegs von Laien gespielten Figuren agieren, so bedächtig ist "Drii Winter" inszeniert. In langen, meist statischen Einstellungen schaut Michael Koch nicht nur geduldig beim Mähen der Bergwiesen mit der Sense, beim Decken einer Kuh, beim Reinigen einer Wiese von Steinblöcken oder beim Transport von Heuballen mit einer Heu-Seilbahn zu, sondern auch bei Gesprächen. Nichts wird hier verklärt, sondern quasidokumentarisch wird ungeschönt der harte Alltag der Bauern geschildert.
Viele Szenen bestehen aus einer einzigen langen Einstellung. Zeit und Raum werden damit nicht nur den Figuren und der Landschaft, sondern auch den Zuschauer*innen gelassen. Andererseits folgt Kameramann Armin Dierolf auch immer wieder mal mit der Handkamera den Protagonist*innen hautnah im Rücken. Keine strenge Form gibt es hier, sondern die Erzählweise ordnet sich ganz der Handlung unter.
So kontrolliert das Erzähltempo ist, das perfekt mit dem ruhigen Leben im Bergdorf korrespondiert, so überzeugend ist die Wahl des engen 4:3 Bildformats. Erst in der letzten Einstellung kommt hier ein Gefühl von Weite auf. Davor ist die Welt trotz im Grunde weiter Bergkulisse beklemmend eng, gleichzeitig wird mit diesen engen Bildern aber auch jeder Anflug kitschiger Bergpanoramen vermieden.
Trotz dramatischer Entwicklungen bleibt der Erzählton durchgehend unaufgeregt und leise. Weder von Anna noch von Marco gibt es einen großen emotionalen Ausbruch. So leise und zurückhaltend sie im Liebesglück waren, so leise sind sie in Trauer und Schmerz.
Dass "Drii Winter" nicht zur tränendrückenden Krankheitsgeschichte wird, liegt auch an den vielen Ellipsen, mit denen Michael Koch arbeitet. Keine langen Krankenhaus- und schon gar keine Operationsszenen gibt es, nichts bekommt man von einem langen und langsamen Siechtum Marcos zu sehen.
Ganz einfach und geradlinig ist die Geschichte erzählt, entwickelt aber durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit Laien enorme Dichte und Kraft. Nichts wirkt hier gestellt, sondern authentisch wirken nicht nur die Schauplätze, sondern auch die Figuren.
Großartiges leistet hier Michèle Brand, die Annas wortlose, aber tiefe innere Erschütterung immer wieder eindringlich spüren lässt. Nicht weniger beeindruckend ist der Bergbauer Simon Wisler, der sich über ein Jahr Bedenkzeit nahm, ehe er zur Mitwirkung am Film einwilligte, in der Rolle Marcos. Der bullige Körper steht in Kontrast zur Angst vor dem Tod, die er schon früh bei der Schlachtung einer Kuh äußert. Ist er schon am Beginn wortkarg, so wird er mit Aufkommen der Krankheit nahezu verstummen und verstockt agieren.
So einfach freilich die Geschichte ist, so grundsätzliche und universelle Themen schneidet Michael Koch in seinem zweiten Spielfilm an. Dichte entwickelt "Drii Winter" dabei gerade durch die ebenso präzise wie beiläufige Verankerung in einem genau gezeichneten Milieu. Vor diesem Hintergrund geht es um Liebe, nach der auch im Lied "What is Love?", das einen Kontrast zum Chor bildet, gefragt wird, und dann nicht nur um Krankheit und Tod, sondern auch um Gott und das Jenseits.
Ein großer Wurf ist Koch so mit seinem kitschfreien, aber bildstarken Heimatfilm gelungen, den man schon jetzt in einem Atemzug mit Fredi M. Murers Meisterwerk "Höhenfeuer" nennen darf. Ob "Drii Winter" freilich nach der lobenden Erwähnung im Wettbewerb der heurigen Berlinale auch bei der nächsten Oscarverleihung reüssieren wird, wird sich noch zeigen. Gespannt sein darf man aber nach diesem eindrucksvollen Drama jetzt schon auf den nächsten Film des 40-jährigen Luzerner Regisseurs.
Drii Winter Schweiz / Deutschland 2022 Regie: Michael Koch mit: Michèle Brand, Simon Wisler, Josef Aschwanden, Elin Zgraggen, Daniela Barmettler, Daniel Imholz Länge: 137 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Drii Winter"
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