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AutorenbildWalter Gasperi

Ein Meister leiser Töne: Hirokazu Kore-eda


Das Laute und das Spektakel wird man in den Filmen von Hirokazu Kore-eda vergeblich suchen. Der 1962 geborene Japaner versucht den Zuschauer nicht zu überwältigen und zu vereinnahmen, erzeugt dafür mit seiner ebenso geduldigen wie genauen Beobachtungsgabe eine Wahrhaftigkeit, die zutiefst bewegt. Das Stadtkino Basel widmet dem Meisterregisseur anlässlich des Starts seines neuen Films "La Vérité – Leben und lügen lassen" im März eine Retrospektive.


Die Herkunft Kore-edas vom Dokumentarfilm sieht man seinen Spielfilmen an. Nicht dramatische Szenen werden da entwickelt, sondern mit Geduld und Zurückhaltung, gleichwohl mit größter Empathie wird beobachtet und durch die Ruhe die Dramatik dem Geschehen gleichsam ausgetrieben.


Da lässt eine allein erziehende Mutter ihre vier Kinder wortlos und auf Nimmerwiedersehen in einer kleinen Stadtwohnung zurück („Nobody Knows“, 2004), da kommt eine Familie zusammen, um des 15. Todestags des ältesten Sohnes zu gedenken („Still Walking“, 2008), eine Frau wird mit dem Selbstmord ihres Mannes nicht fertig („Maboroshi no hikari“, 1995) oder eine Patchworkfamilie schlägt sich mit Ladendiebstählen durch („Shoplifters“, 2018).


Aus jeder dieser Ausgangssituationen könnte man ein tränendrückendes Melodram entwickeln. Kore-eda aber beschränkt sich in „Nobody Knows“ darauf ganz unspektakulär zu schildern, wie sich die vier Geschwister selbst organisieren, wie ihr Alltag verläuft und sie in der Extremsituation den Normalfall spielen. Die Kamera ist dabei immer auf Höhe der Kinder, solidarisiert sich mit ihnen und wird gleichsam zu einem Mitbewohner in der engen Wohnung. Ganz beiläufig wird so bitterste Not sichtbar und rar sind die Momente des Glücks, die als einzige von Musik begleitet werden.


Da gibt es keine großen emotionalen Momente, aber langsam schleicht sich ein Mitgefühl für die Alleingelassenen und eine stille Trauer ein, die lange nachwirken. Mit neuen Augen lässt dieser Film Kinder, im speziellen ihre Zerbrechlichkeit und ihre Bedürfnisse sehen, und per negativum wird sichtbar, was Kindheit ausmacht.


Leicht wäre es hier auch gewesen die Mutter zu verteufeln, doch wie in seinen anderen Filmen fällt Kore-eda auch in „Nobody Knows“ kein Urteil, sondern bleibt neutraler, aber allen Figuren sichtlich mit Liebe zugewandter Beobachter.


Während er sich zu „Nobody Knows“ von einer kurzen Zeitungsnachricht anregen ließ, war der Auslöser von „Still Walking“ der Tod seiner Mutter. Nichts weiter als eine Familienfeier beobachtet Kore-eda hier, beschränkt sich zeitlich auf einen Tag und räumlich weitgehend auf das Haus der Eltern.


Da wird an diesem Gedenktag an den schon 15 Jahre zurückliegenden Unfalltod des Sohnes mehr an Gesten und Blicken als in Dialogen sichtbar, dass die Eltern nie über diesen Verlust hinweggekommen sind. Nach außen benimmt man sich weitgehend korrekt und freundlich, doch speziell in Dialogen über Abwesende werden Bruchlinien sichtbar.


So bitter dieses Meisterwerk, das in der Schilderung der Familie aber auch in seiner zurückhaltenden Inszenierung an die Filme Yasujiro Ozus erinnert, vom Inhalt her ist, so leicht, wie dahingetupft, wirkt es. Perfekt spielen da der von Empathie getragene Blick, die warme Sommeratmosphäre und die sanften Farben zusammen. Wie in „Nobody Knows“ sieht man zwar Tragisches - im Konkreten subtile familiäre Spannungen und die Unfähigkeit zur offenen Kommunikation - und wird doch mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Gelöstheit aus dem Kino entlassen.


Durch die Genauigkeit der Beobachtung entwickeln die Filme Kore-edas aber auch eine Wahrhaftigkeit, wie man sie selten im gegenwärtigen Kino findet. Keine Figuren, sondern realen Menschen, die einem im Laufe des Films immer vertrauter werden und näher kommen, scheint man hier zu sehen. Am stärksten stellt sich dieses Gefühl wohl bei „After Life“ (1998) ein, in dem Verstorbene in einem Zwischenreich von Beamten über ihre liebste Erinnerung befragt werden.


Surreal mag das Klingen, ist aber mit größtem Realismus inszeniert und entwickelt in den Interviewszenen höchste Authentizität. Diese Echtheit wirft aber den Zuschauer wie in „Still Walking“ auf sich selbst zurück, zwingt ihn dort über seine eigene Familiensituation und hier über seine liebsten Erinnerungen – und damit freilich über sein Leben – zu reflektieren.


Um existentielle Themen geht es so im Werk von Hirokazu Kore-eda immer wieder: Um Kindheit, um Verlust und um den Tod und immer wieder um das Leben an sich. Dieser Faden zieht sich von seinem Spielfilmdebüt "Maboroshi no hikari", in dem eine Frau die Trauer über den Verlust ihres Mannes, der Selbstmord begangen hat, scheinbar nicht überwinden kann, bis zu "La Vérité" durch alle Filme des Japaners.


Erkundet werden diese Themen dabei vorwiegend an Familienkonstellationen. In „Like Father, Like Son“ (2013) geht es ausgehend von zwei bei der Geburt verwechselten Babys um die Frage, ob die biologische oder die soziale Komponente bei der Elternschaft wichtiger ist, in „Our Little Sister“ (2015), in dem drei junge Frauen nach dem Tod des lange abwesenden Vaters ihre 13-jährige Halbschwester aufnehmen, wird durch die detailreiche und empathische Schilderung von Alltagsszenen bewegend das Glück des Augenblicks gefeiert.


Auch in „Shoplifters“ (2018), der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, steht die Frage, was Familie im Kern ausmacht, im Zentrum, gleichzeitig übt Kore-eda mit dieser Schilderung von Menschen, die am Rande leben und sich mit Diebstählen durchschlagen müssen, aber auch Kritik an der japanischen Gesellschaft.


Kore-eda versteht es dabei immer, sich mit diesen Themen mit größtem Feingefühl auseinanderzusetzen, sie aus einer Geschichte herauszuentwickeln und nicht ihr aufzupfropfen. Dies gilt auch für „Hana“ (2006), seinen bislang einzigen historischen Film. In diesem Samurai-Film, der sich statt aufs Kämpfen auf den Alltag konzentriert, evoziert Kore-eda mit dem gewohnt genauen Blick für Details und durchzogen von sanfter Komik das Arme-Leute-Milieu des Japans des frühen 18. Jahrhundertsund reflektiert zugleich zeitlos - und von ihm dezidiert als Reaktion auf 9/11 und seine Folgen angelegt - über Rache und Ruhm, Loyalität und wahre Werte.


Nicht nur in seinem neuesten Film „La Vérité – Leben und lügen lassen“ geht es auch um die Frage nach der Wahrheit, sondern ungleich bohrender in dem Drama „The Third Murder“ (2017). Ausgehend von der Verhaftung eines mutmaßlichen Mörders setzt sich Kore-eda darin sehr dialoglastig, aber packend mit dem Rechtssystem, mit Schuld und der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung, auseinander, unterschwellig spielen auch hier Familienverhältnisse herein.


Gespannt darf man so auf den weiteren Weg dieses Regisseurs nach seinem ersten außerhalb seiner Heimat und in einer ihm fremden Sprache gedrehten "La Vérite" sein.

Spieldaten und weitere Infos: Stadtkino Basel


Videoessay zu den Filmen von Hirokazu Kore-eda





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