Klassische Musik und Blasmusik, gehobenes Bürgertum und Arbeiterschicht: Emmanuel Courcol träumt in seiner gefühlvollen Tragikomödie anhand der Geschichte zweier Brüder von der Aussöhnung dieser Gegensätze und spiegelt im Privaten die gesellschaftliche Zerrissenheit Frankreichs.
In seinem letzten Film "Un triomphe" hat Emmanuel Courcol, angelehnt an eine wahre Geschichte, Kad Merad als erfolglosen Schauspieler in einem Gefängnis mit den Insassen Samuel Becketts "Warten auf Godot" einstudieren lassen. Solche Gegensätze lässt der 67-jährige Franzose auch in seinem vierten Spielfilm aufeinanderprallen.
Auf der einen Seite steht der international erfolgreiche Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe). Als er bei einer Probe zusammenbricht, wird bei der medizinischen Untersuchung Leukämie festgestellt. Zudem muss er bei der Suche nach einer Knochenmarkspende erfahren, dass seine Schwester nicht mit ihm verwandt ist. Endlich muss so die Mutter gestehen, dass er als Baby adoptiert wurde und einen Bruder hat.
Dieser ist rasch gefunden. Im Gegensatz zu Thibaut ist dieser Jimmy (Pierre Lottin) aber bei einer Pflegefamilie im Arbeitermilieu im strukturschwachen Norden Frankreichs aufgewachsen. Dort arbeitet er als Koch in der Schulkantine und spielt in der Blaskapelle der Kleinstadt Posaune.
Ist Jimmy zunächst wenig begeistert vom Auftauchen des ihm bislang unbekannten Bruders, so erklärt er sich dennoch zur Knochenmarkspende bereit. Langsam kommen sich die Brüder so näher und Thibaut beginnt auch Jimmy und die Blaskapelle zu unterstützen.
Was in der Zusammenfassung vielleicht sehr simpel klingt, ist insgesamt doch deutlich komplexer angelegt. Eher zu viel als zu wenig packt Courcol nämlich in "En Fanfare". Wirft er nämlich zunächst Fragen nach der Rolle von Genetik und Milieu bei der Entwicklung eines Menschen auf, so geht es bald auch darum, inwieweit man dem angestammten Milieu entkommen und sich hocharbeiten kann. Aber auch die wirtschaftlichen Probleme Nordfrankreichs werden angerissen, mit einem jungen Musikanten mit Down-Syndrom wird für Inklusion plädiert und am Rande wird auch noch eine Liebesgeschichte erzählt.
Vieles wird nur kurz angetippt und nicht breit ausformuliert und wie ein - allerdings sehr gelungener - Mix aus mehreren Filmen wirkt "En Fanfare" teilweise. Denn wie der Dirigent an die Hauptfigur des schwedischen Hits "Wie im Himmel" (2004) und die Geschichte von den in unterschiedlichen Milieus aufgewachsenen Brüdern an Hirokazu Kore-edas "Like Father, Like Son" (2013) erinnert, so scheint das Motiv der Blaskapelle von der britischen Komödie "Brassed Off" (1996) inspiriert. Der dort vor der Schließung stehenden Kohlenzeche steht hier die Fabrik gegenüber, für deren Erhalt die Belegschaft mit einem Streik kämpft.
Im Hintergrund bleibt aber dieser sozialrealistische Aspekt gegenüber der Geschichte der beiden Brüder. Großartig vermitteln Benjamin Lavernhe und Pierre Lottin mit ihrem feinfühligen Spiel deren äußere Gegensätzlichkeit bei gleichzeitiger innerer Nähe. Gerade in den auf den ersten Blick gegensätzlichen Musikrichtungen findet Courcol für sie das Gemeinsame und eindrücklich demonstriert er in einem gemeinsamen Klavierspiel, dass Jazz und klassische Musik im Kern nahe beieinander liegen.
Zu schnell mögen sich zwar sowohl die Spannungen Thibauts mit seiner Schwester und seiner (Adoptiv)mutter als auch ein – für solche Filme geradezu obligater – Knick in der Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden Brüdern wieder auflösen, doch insgesamt nimmt diese Tragikomödie doch für sich ein.
Zu verdanken ist das einerseits Courcols empathischem Blick und dem gekonnten Spiel mit Gegensätzen, andererseits aber auch dem weitgehend unbekannten und natürlich spielenden Ensemble mit markanten Nebenfiguren in der Blaskapelle. Aber selbstverständlich zählt auch die Musik zu den Trümpfen von "En Fanfare". Wie hier klassische Orchesterprobe im Konzertsaal und ziemlich chaotische Blasmusikprobe im Gemeindesaal und Stücke von Beethoven und Mahler sowie der "Triumphmarsch" aus Verdis "Aida" über Chansons von Charles Aznavour bis zu Jazz und Rap, für den sich die jungen Mitglieder der Kapelle begeistern, wechseln oder ineinander übergehen, sorgt für großen Schwung.
Gleichzeitig spiegelt Courcol in den unterschiedlichen Milieus der beiden Brüder und dem Kontrast von klassischer Musik und Blasmusik auch treffend, aber nie aufdringlich die gesellschaftliche Zerrissenheit Frankreichs und träumt mit einer mitreißenden Interpretation von Ravels "Bolero" von einer Überwindung dieser Gräben. Akzeptieren muss man dabei freilich, dass ein kurz angeschnittener tragischer Aspekt nicht zu Ende erzählt, sondern die Zuschauer:innen sehr versöhnlich und optimistisch aus dem Kino entlassen werden.
En Fanfare – Die leisen und die großen Töne Frankreich 2024 Regie: Emmanuel Courcol mit: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé, Clémence Massart-Weit, Anne Loiret Länge: 103 min.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
TaSKino Feldkirch im Kino GUK: 2.1. bis 5.1.
Kinothek Lustenau: Mo 27.1., 18 Uhr + Mi 5.2., 20 Uhr
Trailer zu "En Fanfare - Die leisen und die großen Töne"
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