Sechs Jahre nach dem herrlich schrägen "Swiss Army Man" schalten Daniel Kwan und Daniel Scheinert mindestens noch zwei Gänge höher: In einem Feuerwerk des Einfallsreichtums lassen sie Michelle Yeoh als überforderte Frau in der Midlife-Crisis in zahllose Parallelwelten eintauchen. – Irrwitzige und temporeiche Unterhaltung, bei der im Kern Familien- und Identitätsfragen verhandelt werden.
Vor sechs Jahren gelang Daniel Kwan und Daniel Scheinert, die sich auch "The Daniels" nennen, mit "Swiss Army Man" ein Überraschungserfolg im Arthouse-Bereich. In keine Schublade passten nämlich die haarsträubenden Abenteuer, die ein von "Harry Potter" Daniel Radcliffe gespielter Schiffbrüchigen mit einer furzenden Leiche auf einer einsamen Insel erlebte,
Statt auf eine Insel entführt das Regie-Duo nun in die kleine Wohnung der chinesisch-stämmigen Amerikanerin Evelyn Wang (Michelle Yeoh) und ihrer Familie sowie in Evelyns großen Waschsalon und bald auch zum Finanzamt. Hohes Tempo erzeugen The Daniels von Beginn an, wenn sich Evelyn sowohl um eine Party fürs anstehende chinesische Neujahrsfest, um Kundenwünsche im Waschsalon, um ihren soeben aus China angereisten und auf den Rollstuhl angewiesenen Vater und vor allem um ihre Steuererklärung kümmern muss.
Mit Letzterer wird wohl ein Angstgespenst vieler aufgegriffen und alles andere als erfreulich verläuft auch das Gespräch bei der Finanzbeamtin Deirdre (Jamie Lee Curtis). Doch kurz davor hat Evelyn von einem anderen Ich ihres im Alltag eher hilflosen Mannes Waymond (Ke Huy Quan) im Lift noch einen Tipp bekommen, wie sie in ein Paralleluniversum abtauchen kann.
So schlägt sie, als es zum Konflikt mit der Beamtin kommt, bald als Martial-Arts-Kämpferin die Sicherheitskräfte nieder, sieht sich bald aber auch als gefeierte chinesische Opernsängerin, weniger erfolgreiche Show-Köchin oder aber in ihre Jugend zurückversetzt, als sie mit ihrem Mann China verließ.
Nicht nur diese Erinnerungen sind durch enges Bildformat von der Gegenwart abgehoben, sondern auch sonst wechseln The Daniels in atemlosem Tempo nicht nur immer wieder die mit viel Liebe zum Detail ganz unterschiedlich ausgestatteten Parallelwelten, sondern auch das Bildformat. Gegenstück zu den chinesischen Jugendszenen sind so in Breitwandformat gehaltene Szenen, die melancholisch eine unglückliche Liebe Evelyns in China beschwören.
Wie in diesen Szenen unübersehbar die Filme Wong Kar-Wais zitiert werden, so gibt es auch explizite Reminiszenzen an Kubricks "2001" und auf der Koch-Ebene wird immer wieder auf den Pixar-Film "Ratatouille" Bezug genommen. Bei dem Spiel mit den verschiedenen Welten wiederum spielen The Daniels unübersehbar mit "The Matrix", während die Martial-Arts-Szenen sich an Filmen wie "Tiger & Dragon", in dem Hauptdarstellerin Michelle Yeoh die Hauptrolle spielte, orientieren.
Ein wahres Feuerwerk an Einfällen brennt das Regie-Duo so ab, sorgt mit spektakulären, perfekt choreographierten Kampfszenen und aberwitzigen Einfällen für irrwitzige und temporeiche Unterhaltung. Denn da lässt ein Filmende nach etwa einer Stunde mit Insert von Regisseur und Schauspieler*innen nicht nur das zuvor Gesehene als Film im Film erscheinen, sondern plötzlich werden auch Animationsszenen eingefügt oder zwei große Steine, die weitere Versionen von Evelyn und ihrer Tochter sind, unterhalten sich in der Wüste.
Zusammengehalten wird diese fulminante Achterbahnfahrt vor allem durch eine großartige Michelle Yeoh, die beinahe jeder Szene präsent ist und souverän zwischen ihren Rollen wechselt. Ihre Evelyn mag dabei zwar feststellen "That doesn´t make any sense" und ihr Mann mag darauf antworten "Exactly", doch so abgedreht "Everything Everywhere All at Once" auch daherkommt, so erzählen The Daniels im Kern dieses atemlosen und in der Fülle auch ausufernden und die Zuschauer*innen fast überfordernden Vergnügens doch eine klassische Familiengeschichte.
Da mag zwar die Finanzbeamtin, die von Jamie Lee Curtis mit sichtlichem Vergnügen gespielt wird, immer wieder Konkurrentin sein, doch in einem Universum, in dem die Menschen Finger wie Frankfurter Würstchen haben und somit mit den Füßen Klavier gespielt oder der Computer bedient werden muss, kommt Evelyn sogar ihrer Gegenspielerin näher.
Die Parallelwelten erscheinen bald als Flucht aus einer unbefriedigenden Realität, in der sich ihr Mann von ihr scheiden lassen will und die Beziehung zur lesbischen Tochter konfliktreich ist. So hadert Evelyn mit der damaligen Entscheidung China verlassen zu haben und leidet unter dem Gefühl im Leben gescheitert zu sein.
Die Paralleluniversen, in die sie eintaucht, entsprechen dabei einerseits einer Identitätssuche, andererseits führen sie vor Augen, welch unendlichen Möglichkeiten das Leben bietet. So mag es zunächst zwar ein großer Traum sein, Superheldin zu sein, doch Evelyn wird lernen, auch im ganz normalen Alltag ihre Probleme zu bewältigen. So bewegt sich der Film. der in die drei Kapitel "Everything", "Everywhere" und "All at Once" unterteilt ist, von der zunächst dysfunktionalen Familie zu Harmonie und der Einsicht Evelyns, dass es Zeit ist, ihre Tochter loszulassen.
Diese familiäre Entwicklungsgeschichte ist zwar konventionell, doch The Daniels verpacken sie in eine so rasante und einfallsreiche filmische Wundertüte, die schon jetzt bei der Suche nach dem originellsten Film des Jahres zu den Favoriten gezählt werden muss.
Everything Everywhere All at Once USA 2022 Regie: Daniel «Dan» Kwan, Daniel Scheinert mit: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, Stephanie Hsu, James Hong, Jamie Lee Curtis Länge: 139 min.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Skino Schaan und im Scala in St. Gallen
Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Do 11.8., 20 Uhr
Trailer zu "Everything Everywhere All at Once"
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