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AutorenbildWalter Gasperi

Explanation for Everything – Eine Erklärung für Alles

Eine desaströse Abschlussprüfung zieht Kreise, die Gábor Reisz nutzt, um die Spaltung Ungarns unter Premierminister Victor Orban auszuloten: Ein formal konsequentes und meisterhaft verdichtetes, messerscharfes Gesellschaftsporträt.


Schwarzfilm wird von einem kleinen quadratischen Bild abgelöst, das langsam größer wird und Ausschnitte aus der Laufbahn von Gymnasiast:innen mit Partys und Schulreisen bietet, bis das 4:3-Format erreicht ist. Doch nicht nur das Filmformat engt einerseits den Blick ein und sorgt andererseits für verdichtetes und konzentriertes Erzählen, sondern auch die vorwiegend nahen Einstellungen: Nie gewinnt man hier einen Überblick über die Schauplätze, wird dafür aber unmittelbar ins Geschehen hineingezogen.


Mit verspielten handgeschriebenen Inserts wie "Dienstag: Àbel in der Wildnis", "Am Montag denkt György an Dienstag", "Einer von Jakabs Montagen" oder "Am Sonntag geschieht nichts" strukturiert Gábor Reisz seinen dritten langen Spielfilm nicht nur über eine Kalenderwoche, sondern markiert damit auch Perspektivenwechsel. Im Zentrum steht zwar der Maturant Àbel (Gáspár Adonyi-Walsh), der am Beginn für seine Abschlussprüfung in Geschichte lernen sollte, aber davon durch seine Liebe zu seiner Mitschülerin Janka (Lilla Kizlinger) abgelenkt wird, doch bald fokussiert Reisz auch auf Àbels Vater György (István Znamenák), dann auf dem Lehrer Jakab (András Rusznák).


Durch diesen multiperspektivischen Ansatz gewinnt "Explanation for Everything", der in Venedig 2023 in der Sektion Orizzonti als bester Film ausgezeichnet wurde, große Komplexität. Der Liebe Àbels wird so beispielsweise die Schwärmerei Jankas für ihren verheirateten Geschichtelehrer Jakab gegenübergestellt. Dieser erteilt seiner Schülerin zwar eine klare Absage, dennoch scheint Àbel eifersüchtig auf den Lehrer.


Jakab muss sich wiederum von seiner Frau vorwerfen lassen, dass er sich nicht um die beiden gemeinsamen Kinder, sondern nur um sich selbst kümmere. Àbels als Architekt arbeitender Vater György macht dagegen einem Angestellten, der einen besseren Job im Ausland annehmen will, heftige Vorwürfe, weil er seiner Heimat den Rücken kehre.


Andeutungen vermitteln auch schon einen Eindruck vom gespannten Verhältnis zwischen Àbels Vater und dem Geschichtelehrer. Bei einem Elternabend kam es nämlich wegen der regierungstreuen Haltung des Vaters und der kritisch linken Position des Lehrers zu einer heftigen Konfrontation, die sich im Folgenden noch steigern wird.


Àbel versagt nämlich bei der Abschlussprüfung völlig. Weder auf die erste Frage zur Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert noch auf die Ersatzfrage zu Julius Caesar kann er auch nur ansatzweise antworten, erklärt dies zuhause aber damit, dass Jakab ihn mit der Frage, warum er ein Ungarn-Abzeichen am Revers trage, irritiert habe.


Üblich ist es zwar diese Anstecknadel mit den Farben der ungarischen Flagge am 15. März, dem Jahrestag des Beginns der Revolution gegen die Habsburgerherrschaft 1848 und einem der wichtigsten Feiertage Ungarns, zu tragen, doch abseits davon gilt sie als Zeichen einer nationalistischen Gesinnung.


Richtig ins Rollen kommen die Dinge, als zufällig eine junge Journalistin (Rebeka Hatházi) von der Abschlussprüfung erfährt. Ihr Artikel wird vom Chefredakteur durch einen entsprechenden Titel verschärft und bald setzen die Medien dem Direktor der Schule zu, Jakab droht die Kündigung, während Janka mit Àbel bricht, weil sie dessen Verhalten aufs schärfste verurteilt. Die Journalistin wiederum erhält aufgrund ihres Artikels einen Job in Regierungskreisen.


Doch nicht nur zwischen Janka und Àbel eskaliert ein Gespräch, sondern auch zwischen Jakab und seiner Frau und in wilden Beschimpfungen, in denen die gegensätzlichen politischen Positionen treffend sichtbar werden, endet ein Besuch Jakabs bei Àbels Eltern.


Meisterhaft verdichtet zeichnet Reisz so anhand der im Grunde einfachen und kleinen Schulgeschichte, unterstützt von starken Schauspieler:innen, nüchtern, aber fesselnd und mit trockenem Biss ein bestechendes Bild der ungarischen Gesellschaft. Auf Polemik kann er dabei getrost verzichten, lässt den Akteuren beider Seiten Raum und lässt es doch nicht an scharfer Kritik an einem System missen, in dem willfährige Helfer befördert und begünstigt, kritische und missliebige Personen dagegen ausgegrenzt und abgekanzelt werden.

 

Explanation for Everything – Eine Erklärung für Alles Ungarn / Slowakei 2023 Regie: Gábor Reisz mit: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák, Rebeka Hatházi, Eliza Sodró, Lilla Kizlinger, Krisztina Urbanovits Länge: 128 min.



Läuft derzeit in den österreichischen Kinos. - Ab 19.12. in den deutschen Kinos.



Trailer zu "Explanation for Everything - Eine Erklärung für Alles"

 


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