Eigen- und widerständig sind die Filme der Britin Andrea Arnold. Deren Besonderheiten werden im 66. Band der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte in acht Essays fundiert und detailliert herausgearbeitet.
Mit drei Kurzfilmen und vier Spielfilmen sowie dem Spiel-Dokumentarfilm-Hybrid "Cow" (2022) ist das Werk der 1961 geborenen Britin Andrea Arnold scheinbar schmal. Doch daneben führte sie noch bei mehreren Fernsehserien Regie, die in diesem Band der Reihe Film-Konzepte nicht berücksichtigt werden.
Herausgeberin Kristina Köhler versucht ausgehend von Arnolds eigener Kritik an ihrer Kategorisierung als sozialrealistische und feministische Filmemacherin vor allem anhand von "Fish Tank" (2009) das Typische und Widerständige dieser Filme herauszuarbeiten. Arnold breche zwar mit männlichen Blickstrukturen, stelle diesen aber keinen weiblichen Blick, sondern vielmehr ein instabiles und partielles Sehen gegenüber. Statt offen harsche Kritik zu üben, arbeite sie vielmehr mit den Parametern des Kinos und ihre Haltung verdichte sich vor allem durch die Kameraarbeit, durch die Nah- und Distanzverhältnisse ausgespielt und die Hierarchien und Ordnungen innerhalb des Bildraums umgewälzt würden.
Dieser Blick auf das Eigen- und Widerständige zieht sich durch alle Essays. So zeigt Alejandro Bachmann am Kurzfilm "Dog" (2001) detailliert auf, dass Arnold weniger Geschichten erzählt als vielmehr aus einzelnen Szenen und Details ein Bild oder einen Zustand gestaltet.
Cornelia Hermann widmet sich dagegen am Beispiel des Oscar gekrönten Kurzfilms "Wasp" (2003) Arnolds dramaturgischer Perspektive zwischen Melodram und Sozialrealismus. Aufbauend auf einer detaillierten Inhaltsbeschreibung arbeitet sie plastisch das Spannungsfeld der alleinerziehenden Protagonistin zwischen Fürsorge für die Kinder und Sehnsucht nach einem Date heraus und wie durch den genauen Blick auf die existentiellen Bedürfnisse und Sehnsüchte der Figuren Nähe hergestellt wird.
Bei Arnolds Langfilmdebüt "Red Road" (2006) untersucht Lucia Wiedergrün vor allem, wie die Regisseurin die Videoüberwachung im Film mit der Spielfilmhandlung verbindet und die Öffnung und Trauerarbeit der Protagonistin auch durch die Kameraarbeit vermittelt.
Annette Brauerhoch widmet sich dagegen Arnolds Arbeit mit Landschaften, Dingen und Tieren in ihrer Bronte-Verfilmung "Wuthering Heights" (2011). Detailliert arbeitet die Autorin heraus, wie Arnold Landschaften und Dingen durch extreme Nahaufnahmen, aber auch durch das analoge Filmmaterial eine haptische Qualität und einen Eigenwert verleiht und mit diesen von der Erzählung unabhängigen Momenten gegen die Hierarchisierungen eines Spielfilms arbeitet.
Guido Kristen fokussiert in seinem Beitrag auf den Ambivalenzen in "American Honey" (2016). Diese ergeben sich für den Autor einerseits durch das gebrochene Bild des US-Subproletariats, das einerseits durch starke Hierarchie und geringen Lohn, andererseits aber auch durch Lebensfreude, Partys und Zusammengehörigkeitsgefühl gekennzeichnet sei, andererseits durch einen Mix aus interner und externer (semi-externer) Fokalisierung. Durch bruchstückhafte Backstorys, elliptische Struktur mit löchriger Narration und Desorientierung bei der szenischen Auflösung lasse der Film seiner Protagonistin ihre Geheimnisse und bleibe offen für unterschiedliche Lesarten.
Britta Hartmann und Eggo Müller arbeiten an "Cow" (2022), in dem die Milchkuh Luma durch ein Lebensjahr begleitet wird, heraus, wie Arnold durch die Arbeit mit der Kamera ebenso wie durch die Tonspur Nähe zu diesem Tier herstellt und zum genauen Hinsehen und Hinhören zwingt. So stelle sich einerseits auch ohne verbalen Voice-over-Kommentar durch die filmische Gestaltung eine dezidierte Haltung gegenüber dem Thema ein, andererseits würden so die Differenzen von Spiel- und Dokumentarfilm unterlaufen.
Abschließend setzt sich Vivien Buchhorn mit Arnolds Zurückhaltung gegenüber Interviews und öffentlichen Auftritten und Aussagen zu ihren Filmen auseinander. Die Autorin sieht darin einerseits eine Parallele zu den Entzugsstrategien ihrer Protagonistinnen, andererseits aber auch einen gezielten Bruch mit der Auffassung des (männlichen) Autors als eloquentem Intellektuellen, der die Vermittlung und Interpretation seiner Filme gleich selbst übernimmt und die Deutung seines Werks damit kontrolliert.
Eine eineinhalbseitige Biographie und eine Filmografie, die neben den Kurz- und Spielfilmen auch Arnolds Arbeit an Fernsehserien beinhaltet, runden diesen Band ab, der mit seinen trotz ihrer Wissenschaftlichkeit gut lesbaren und spannenden Essays die Filme der 62-jährigen Britin mit neuen und offeneren Augen sehen lässt.
Kristina Köhler (Hg.), Film-Konzepte 66: Andrea Arnold, Edition text + kritik, München 2023. 96 S., € 20, ISBN 978-3-96707-690-5
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