"Halbe Treppe", "Wolke 9" oder "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" – Immer wieder leben die Filme Andreas Dresens vom Gefühl der Lebensechtheit und Authentizität: In einer Einführung, einem ausführlichen Interview und fünf Essays wird im 64. Band der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte nicht nur diesem Aspekt im Schaffen des 59-jährigen Deutschen nachgespürt.
Herausgeber Jörg Schweinitz betont gleich zu Beginn, dass man sich angesichts der Fülle von Dresens Werk und der Schmalheit des Bandes von rund 100 Seiten zum Prinzip pars pro toto bekennen müsse. Immerhin 13 lange Spielfilme hat Dresen seit seinem 1992 entstandenen Debüt "Stilles Land" gedreht, dazu kommen mehrere Dokumentarfilme wie "Herr Wichmann von der CDU (2003) und Arbeiten fürs Fernsehen.
Schweinitz selbst bietet eine differenzierte und anschauliche Einführung in das Werk Dresens und arbeitet das Spannungsfeld von Kohärenz zwischen den Filmen und Unterschieden heraus. Als Verbindendes sieht der Autor die Liebe zu den Menschen, die er als Dresen-Ton bezeichnet. Diesem Bindeglied stehen formal das Pendeln zwischen Improvisation und genauer Planung und Komposition, aber auch unterschiedliche dramaturgische Anlagen und ein breites thematisches Spektrum gegenüber.
Eine Gemeinsamkeit der Filme besteht für Schweinitz aber auch in der genauen Beobachtung und Kenntnis der Situationen und Milieus und wiederkehrende Merkmale seien auch der – vor allem in den Dokumentarfilmen - ironische Blick, die Arbeit mit harten Konflikten, sowie ein Faible für Figuren, die sich nicht unterkriegen lassen.
Als Kernstück der Publikation kann man das über 20-seitige Interview von Schweinitz und Selina Hangartner mit Dresen ansehen. Hier spricht der Regisseur über das Sozialrealistische seiner Filme, betont, dass die scheinbare Authentizität seiner Filme Ergebnis genauer Planung und Konstruktion sei, und bietet auch Einblick in die Entstehung von "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush".
Er nimmt aber auch Stellung zur Bedeutung der Liebe zu den Figuren, der Rolle seiner Drehbuchautoren Wolfgang Kohlhaase und Laila Stieler und zur Improvisation und Ironie speziell in "Herr Wichmann von der CDU". Aber auch Dresens Vorliebe für die Besetzung der Rollen mit unbekannten Schauspieler:innen oder Gesichtern wird behandelt und die Vorteile einer gemischten Finanzierung, bei der man mehr Freiheiten habe.
Auf diese allgemeinen Beiträge folgen fünf Essays, die auf einzelne Filme oder Aspekte fokussieren. So untersucht Stefanie Mathilde Frank den Blick auf die DDR in der Zeit des Umbruchs im Spielfilmdebüt "Stilles Land" (1992). Daniel Wiegand arbeitet anhand der Montage-Konstruktionen in "Nachtgestalten" (1999) und "Die Polizistin" (2001) heraus, dass die Begriffe Authentizität und Realismus für Dresens Filme nur bedingt zutreffen, da dahinter komplexe Konstruktionen, Überlegungen und Planungen mit Ton-Bild-Montagen und die Verbindung von mehreren Erzählsträngen stehen.
Hans J. Wulff widmet sich dem Schauspieler Axel Prahl, der in den ersten großen Spielfilmen Dresens zum Gesicht seiner Filme wurde, seit seiner Berühmtheit als "Tatort"-Kommissar Thiel, aber von Dresen nur noch in ganz anders gearteten Nebenrollen besetzt wird. Wulff bietet nicht nur Einblick in die Entwicklung Prahls, sondern auch in dessen Fähigkeit, sein Spiel rhythmisch zu organisieren.
Selina Hangartner wiederum arbeitet die Ironie im Dokumentarfilm "Herr Wichmann von der CDU" heraus, in dem der Lokalpolitiker nicht nur gegen den sehr realen Gegenwind, sondern auch gegen übergroße Plakate der SPD kämpfen muss. Im abschließenden Essay analysiert Andreas Kötzing schließlich die Inszenierung der Nachwendezeit in "Als wir träumten" und zeigt Beziehungen zu anderen Filmen Dresens, aber auch den Umgang anderer Regisseure mit dieser Thematik auf.
Abgerundet wird der gewohnt sorgfältig gestaltete Band, der einen vielschichtigen Einblick in das Schaffen des deutschen Regisseurs bietet, wie gewohnt von einer kurzen Biographie und einer Filmographie.
Jörg Schweinitz (Hg.), Film-Konzepte 64: Andreas Dresen, Edition text + kritik, München 2022. 117 S., € 20, ISBN 978-3-96707-580-9
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